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Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Titel: Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schimun Wrotschek
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geschlossen wurden, fielen die Leute in eine Art Schockstarre. Wie Kaninchen im Lichtstrahl eines Autoscheinwerfers. Und dann begannen die Kaninchen, die Löffel abzugeben. Es stellte sich nämlich heraus, dass man die hermetischen Tore nicht öffnen konnte. Die Automatik war auf eine bestimmte Zeitspanne eingestellt. Dreißig Tage. Die Apokalypse hatte also doch begonnen. Die Radioaktivität an der Oberfläche war so hoch, dass man ein Grillhähnchen hätte braten können, indem man es unter dem Arm spazieren trug.
    So brach das Unglück über die Menschen herein.
    Onkel Jewpat erzählte, damals habe so ein großer Chef, so einer mit Mantel und Hut, mitten unter ihnen auf dem Bahnsteig gesessen. In den Händen hielt er eine Aktentasche, eine teure, aus braunem Leder. Dieser große Chef saß also einfach nur da und schwieg. Aus heiterem Himmel holte er eine Pistole aus seiner Aktentasche, steckte sie sich in den Mund und drückte ab. Blut, Gehirnmasse, alles spritzte herum. Die Leute saßen so dicht gedrängt, dass sie nicht ausweichen konnten. Alle, die in der Nähe waren, wurden besudelt.
    »Und wie die Leute dann zu lachen anfingen«, erzählte Onkel Jewpat, »so ein schauderhaftes Gelächter hatte ich noch nie gehört. Stellt euch vor, da sitzt ein Mann mit halb weggeschossenem Kopf, der nicht einmal Platz zum Umfallen hat, und die fangen einfach zu lachen an. Völlig hysterisch natürlich. Situationskomik von der heftigen Sorte. Das Seltsame daran ist …«, erzählte Onkel Jewpat weiter. »Ich habe ja schon viele Leute sterben sehen. Aber an diesen Mann muss ich immer wieder denken. Er schien innerlich völlig ruhig und zappelte nicht herum. Er schaute nur ständig auf die Uhr. Wie ferngesteuert. Erst schaute er auf die Uhr, dann in die Richtung, wo sich das hermetische Tor befand – und saß wieder ruhig da. Ich frage mich die ganze Zeit, worauf er wohl gewartet hat? Hat er gehofft, das Ganze sei nur ein Übungsalarm? Da wäre er jedenfalls nicht der Einzige gewesen. Ich habe das auch gehofft.«
    Nachdem die dreißig Tage vergangen waren, griffen Depression und Panik um sich. In allen Stadien, die auftreten, wenn man dem Patienten mitteilt, dass er todgeweiht ist. Anfangs wird noch die Diagnose angezweifelt, dann beginnt die Suche nach einem Ausweg, es folgen Wut, Verzweiflung und Tränen, bis das unausweichliche Ende schließlich akzeptiert wird.
    Man öffnete von Hand den Notausgang und schickte zwei Freiwillige hinauf. Sie kamen nicht mehr zurück. Man schickte einen Fünfertrupp. Einer davon kam zurück und berichtete: Dort oben ist die Hölle, die Geigerzähler spielen verrückt. Dann starb er. An der Strahlenkrankheit. Ein Dosimeter, das man an den Leichnam hielt, zeigte haarsträubende Werte an. Das war der Punkt, an dem die Phase der Wut und Verzweiflung einsetzte.
    Chaos brach aus.
    »… Chaos brach aus«, erzählte Wodjanik. »Und in dieser Situation trat Saddam auf den Plan. Saddam den Großen taufte man ihn erst später. Vor der Katastrophe war er Klempner gewesen. Oder Bauleiter. Hatte Tadschiken herumgescheucht, genau. Oder ein Hauptmann der Armee. Die Geschichte schweigt sich darüber aus. Wie auch immer: Der Hauptmann a. D. nahm jedenfalls die Geschicke der Metro in die Hand. Und zwar energisch. Da muckte keiner auf. Als er befahl, die hermetischen Tore wieder zu schließen, wurde dieser Befehl anstandslos ausgeführt.«
    Iwans Beine knickten ein. Wenn er jetzt nicht zu seinem Zelt ging, würde er hier auf dem nackten Boden einschlafen, so viel stand fest.
    »Spielst du ein Monopoly mit?«, flüsterte jemand laut hinter der Zeltplane. »Finger weg, ich darf aussuchen!«
    »Nicht so laut, ihr Dödel. Wer hat die Taschenlampe?«
    Im dem großen Zelt, in dem alle Heranwachsenden schliefen, verlief die Nacht offenbar recht unterhaltsam.
    Die müssten doch eigentlich wie Tote schlafen, dachte Iwan und schüttelte den Kopf. Genau in dem Alter hatte ich den tiefsten Schlaf. Außerdem konnte ich zwei oder drei Tage am Stück aufbleiben. Und war trotzdem topfit. Das waren noch Zeiten. Jetzt bin ich gerade mal eine Nacht auf den Beinen und schlafe buchstäblich im Stehen ein.
    Iwan wollte sich gerade zum Südende der Station aufmachen, als ihn plötzlich jemand anblaffte:
    »Stehen bleiben! Parole!«
    Iwan zögerte den Bruchteil einer Sekunde, dann fuhr er herum, ging in die Knie und griff nach seinem Gewehr.
    »Keine Panik«, sagte Pascha und grinste frech. »Ich bin’s nur.«
    Poch! Das Herz.

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