Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
denn am Morgen kommt die Kälte.
Nieselregen tropfte auf die Schultern und pochte leise gegen den Gummi der Gasmaske. Die Sichtscheiben begannen zu beschlagen. Iwan blickte sich um. Die Truppe folgte ihm. Der tote Wald – womöglich jener legendäre Kiefernwald, von dem der Name der Stadt herrührte – lag bereits hinter ihnen. Bald mussten sie das Gelände des Atomkraftwerks erreichen.
Hinter einem grauen Dunstschleier erkannte Iwan die Umrisse der gewaltigen Gebäude. Riesige Schornsteine ragten empor und verloren sich im Nebel. An einem windschiefen Pfosten hing ein erstes Warnschild: »Durchgang verboten. Überwachtes Territorium.« Der abgeblätterte Lack hing in Fetzen vom rostigen Blech.
Mehrmals stiegen sie über Reste von Stacheldraht, die wie Stolperfallen auf dem Boden lagen. An manchen Stellen zeigte sich spärliche Vegetation. Äußerlich ganz gewöhnliches Gras, doch Iwan zog es vor, den grünen Inseln auszuweichen.
In der Ferne wiegte sich graues Strauchwerk im Wind.
»Gut möglich, dass wir durch das Leben im Untergrund die Fähigkeit des Farbensehens verlieren«, hatte Wodjanik vor ihrem Aufbruch gesagt. »So wie einst die Wölfe, die vorwiegend nachts und in der Dämmerung jagen. Schon jetzt kommt in der Metro ein Teil der Kinder farbenblind zur Welt. Möglicherweise hat das auch mit der erhöhten Strahlung zu tun, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Wir verändern uns. Wir passen uns an. Jede neue Generation unterscheidet sich von der vorherigen. Derzeit weisen Neugeborene eine erhöhte Eigenstrahlung auf, aber gleichzeitig scheint sich auch eine Art Immunität gegen Radioaktivität auszubilden. Die Natur arrangiert sich, sogar mit so undankbaren Objekten wie dem Menschen. Allerdings würde ich das, was an der Oberfläche geschieht, nicht zur evolutionären Entwicklung des Menschen rechnen. Gut möglich, dass so etwas wie eine Systemrückstellung im Gange ist. Aber genauso gut könnte es sein – und das wäre wesentlich schlimmer –, dass die Natur einen Plan B umsetzt, indem sie ein Ökosystem aufbaut, das auf anderen Prinzipien beruht. Und dann hat die Menschheit keine Chance. Leider.«
Iwan stieg über eine kleine Grube, in der sich eine Wasserpfütze gebildet hatte. Für einen Augenblick tauchte seine Silhouette in dem schmutzigen Spiegel auf, der von Regentropfen zerbrochen wurde.
Nach einer halben Stunde Marsch erreichten sie das Gelände des Atomkraftwerks. Wie verstümmelte Wachposten standen verrostete, teils geknickte Masten an der Grenze des ehedem überwachten Territoriums. Das windschiefe Häuschen eines Kontrollpunkts stand einsam im Regen. Hinter der Schranke, von der der Lack abgeblättert war und deren eines Ende auf den Boden herabhing, befand sich eine relativ gut erhaltene Asphaltstraße.
Das nächstgelegene Gebäude des Atomkraftwerks sah völlig intakt aus. Als wäre hier niemals eine Katastrophe passiert. Andererseits: Was konnten äußerliche Einflüsse dem Betonmantel eines AKWs schon anhaben? Es fehlten nur die Menschen. Aber sonst?
Iwan stieg über die Schranke und blieb stehen, um auf die anderen zu warten. Ein ebenes, abgegrenztes Gelände. Entlang der Gehwege schnurgerade Reihen nackter, abgestorbener Sträucher.
Der Oberführer kam hinzu. Regentropfen klatschten auf seinen Schutzanzug und auf die Gummischnauze seiner Gasmaske. Die beiden runden Sichtscheiben drehten sich zu Iwan und der Oberführer tippte mit dem Finger gegen das Filtergehäuse. Iwan nickte und sah auf die Uhr. Richtig. Höchste Zeit.
Er winkte die anderen herbei. »Fertigmachen zum Filterwechsel.« Seine hohle Gasmaskenstimme klang durch die feuchte Luft noch zusätzlich gedämpft.
Plötzlich wurde das monotone Prasseln des Regens von einem fernen, sehnsuchtsvollen Schrei durchbrochen.
Iwan zuckte zusammen.
Aus irgendeinem Grund dachte er sofort an den grauen Riesen, der am Heck des U-Boots gestanden hatte.
Ach was. Das konnte nicht sein.
»Kommando zurück«, zeigte Iwan mit Gesten an. »Mir nach. Im Laufschritt!«
Stiefelgetrappel auf dem nassen, rissigen Asphalt. Links von ihnen erhob sich ein Kraftwerksblock. Wegen des Nebels konnte man seinen oberen Teil nicht sehen und hatte den Eindruck, er würde endlos in den Himmel ragen, mindestens so hoch wie das Ochta-Center. Der mächtige Bau schwebte so langsam an ihnen vorbei, dass sie das Gefühl hatten, überhaupt nicht vorwärtszukommen.
Urplötzlich hörte der Regen auf. Als hätte jemand einen Hahn
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