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Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Titel: Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schimun Wrotschek
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lackierte Blechspinde. Einer davon stand offen. Darin hing ein altes Handtuch.
    »Die Gasmasken könnt ihr abnehmen«, sagte der Alte. »Hier ist es steril.«
    Nachdem sie sich umgezogen hatten, wandte sich Iwan an den alten Mann.
    »Wer sind Sie?«
    »Ich heiße Fjodor Bachmetjew und bin – wenn Sie so wollen – der Chauffeur dieses Reaktors.« Auf dem Gesicht des Alten erschien ein völlig aufrichtiges Lächeln, das dennoch ein wenig gequält wirkte, als hätten seine Gesichtsmuskeln es verlernt.
    Vor der Katastrophe hatte Fjodor Bachmetjew als leitender Ingenieur im AKW gearbeitet und war für die Beschickung und den Betrieb des Kernreaktors zuständig gewesen. Am Tag der Katastrophe war er in die Halle über dem Reaktorkern zurückgekehrt, weil er dort seinen Hausschlüssel vergessen hatte. (»Ironie des Schicksals«, sagte der Alte.) Genau in diesem Moment wurden die automatischen Sicherungssysteme ausgelöst, und er fand sich hinter verschlossenen Türen wieder.
    »Das hätte jedem passieren können«, erzählte der Alte. »Ich hatte eben Glück. Tja.«
    Dabei hatte er anfangs, als die Türen hermetisch verriegelt wurden, noch gedacht, sein Ende sei gekommen. Später stellte sich dann heraus, dass es seine Rettung gewesen war.
    »Ich möchte nicht im Detail erzählen, wie es mir danach ergangen ist«, sagte Fjodor. »Das ist eine lange und nicht sehr unterhaltsame Geschichte. Entscheidend ist, dass ich überlebt habe. Und wieder an die Arbeit gegangen bin. In meinem Beruf, hehe. Ich arbeite auch jetzt noch. So ein Reaktor ist ein ziemlich sensibles Gebilde. Aber wenn man ihn anständig pflegt, funktioniert er wie geschmiert. Dank des Reaktors habe ich Strom, heißes Wasser, Heizung, Licht, Musik, Kino …«
    »Einen hübschen Ofen haben Sie sich da zugelegt«, kommentierte der Oberführer beeindruckt.
    »Früher kamen noch Menschen zum Kraftwerk«, erzählte Fjodor. »Aber sie haben nicht lange gelebt. Das können Sie sich ja denken. Sie waren so furchtbar verstrahlt, dass man sich besser nicht in ihre Nähe wagte. Einmal kam eine schwangere Frau …« Der Alte wischte sich über die Stirn – die Erinnerung machte ihm sichtlich zu schaffen. »Sie hieß Marina. Ich habe sie hinter dem Kraftwerk begraben. Sie und ihr Baby.« Er hielt inne. »Verzeihen Sie.«
    Schweigen. Was sollte man dazu auch sagen? Jede Geschichte ist einzigartig, und doch sind sie alle irgendwie gleich. Die Katastrophe war erbarmungslos.
    »Das Erstaunlichste ist natürlich, dass das Kraftwerk nicht zerstört wurde«, fuhr Fjodor fort. »Manchmal kann ich es selbst nicht glauben.«
    Iwan nickte. Etwas Ähnliches hatte auch Wodjanik geäußert.
    »Ich habe gehört, dass Sosnowy Bor für den Fall eines Atomkriegs als prioritäres Ziel galt.«
    Der Alte seufzte.
    »Ich fürchte, das war gar kein Atomkrieg. Und wenn es einer war, dann haben sich die Wissenschaftler bei der Einschätzung der Folgen fürchterlich geirrt. Oder glauben Sie, dass sie mit solchen Folgen gerechnet haben?« Sein ausgestreckter Arm schwenkte über die tote Landschaft vor dem Fenster, aus der nur ein paar Baumleichen ragten.
    »Wir haben Wasser rauschen gehört«, sagte Iwan. »Ist das hier am Kraftwerk? Ist etwa die Kanalisation noch intakt?«
    »Nein.« Fjodor schüttelte den Kopf. »Das sind die Wasserpumpen des Reaktors. Das Kraftwerk wird mit Meerwasser gekühlt und das verbrauchte Wasser wieder zurück in den Finnischen Meerbusen gepumpt. Ein Beitrag zur hiesigen radioaktiven Belastung. Allerdings ein sehr kleiner angesichts der schon vorhandenen Verstrahlung.«
    »Mit anderen Worten …« Iwan zögerte. »Sie wollen damit sagen, dass der Reaktor noch läuft?«
    Fjodor sah Iwan und seine Digger-Truppe verständnislos an.
    »Selbstverständlich läuft er noch. Deswegen sind Sie doch hier, oder nicht?«
    »Wissen Sie, ein Atomkraftwerk ist ein geschlossenes System, das sich selbst reguliert. Wenn sämtliches Betriebspersonal auf einmal das Kraftwerk verlässt, passiert überhaupt nichts. Alle Systeme laufen dann im Automatikbetrieb weiter – zumindest theoretisch. Ein einziger Satz Brennelemente reicht für viele Jahre Betrieb. Es hat sich so ergeben, dass der Block 3 – mein Block – zur Instandsetzung und Modernisierung für längere Zeit abgeschaltet war und erst unmittelbar vor der Katastrophe wieder mit Kernbrennstoff beschickt wurde. Im regulären Betrieb, also bei hundert Prozent Leistung, würde er mit diesem Vorrat über fünf Jahre laufen. Wenn man die

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