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Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Titel: Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schimun Wrotschek
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abgerissen, wie wir aussehen.«
    Der Graue wiegte skeptisch den Kopf.
    »Keine Ahnung. Vielleicht eine Frau, vielleicht auch nicht. Aber irgendjemanden versteckt er vor uns.«
    »Leben Sie wirklich allein?« Iwan schaute dem Alten scharf in die Augen. »Wir glauben, dass hier noch jemand ist. Warum bekommen wir sie oder ihn nicht zu Gesicht?«
    Fjodor antwortete nicht sofort. Iwan sah, wie er nervös mit den dürren Fingern spielte. Sein Hände umspannte runzelige, von knorrigen Adern durchzogene Haut. An den Innenseiten hatte er seltsame Schwielen.
    »Hier ist niemand«, sagte Fjodor schließlich. »Entschuldigen Sie mich, ich möchte jetzt allein sein.«
    Mit diesen Worten verschwand er. Iwan schaute ihm hinterher. Wovon man wohl solche Schwielen bekam? Der Digger betrachtete seine Hände. Klarer Fall.
    Vom Griff einer Schaufel.
    Bei nächster Gelegenheit sprach Iwan den Alten auf seine schwieligen Hände an. Der antwortete zunächst nicht, doch nach einer Weile forderte er den Digger auf, sich für einen Ausflug ins Freie fertigzumachen.
    Jetzt wird’s spannend, dachte Iwan.
    Vor dem Gebäude des Atomkraftwerks erstreckte sich ein ebenes Feld.
    »Früher war das mal eine Rasenfläche«, erläuterte Fjodor dumpf durch die Gasmaske hindurch.
    »Und jetzt?«, fragte Iwan, obwohl er sich die Antwort schon denken konnte.
    In der Erde steckten aus Stahlrohren zusammengeschweißte Kreuze. Mehrere Dutzend. Einige beschriftet. Manche sogar mit Grabeinfriedungen.
    »Jetzt ist es ein Friedhof«, erwiderte Fjodor.
    Über dem Atomkraftwerk lag dichter Nebel. Die gigantischen Schornsteine sahen aus wie die Beine eines Monsters, das in dem trüben Schleier stecken geblieben war.
    Iwan trat an eines der Gräber, bückte sich und las:
    »Marina K. geb. 1993.«
    Auf dem kleinen Grabhügel lagen Zweige einer braunen Pflanze mit lanzettförmigen Blättern und kleinen, weißen Blüten. Von der Tradition, Gräber mit Blumen zu schmücken, hatte Iwan gehört, doch mit eigenen Augen sah er so etwas zum ersten Mal.
    Wer war diese Frau?, fragte er sich. Seine Frau? Wer auch immer, es geht mich nichts an.
    »Gehen wir zurück«, sagte der Alte.
    Iwan nickte. Bevor sie sich zurückzogen, blieben sie noch kurz stehen, um sich von den Toten zu verabschieden.
    Eine Schweigeminute zum Gedenken an die Gefallenen. Jetzt. Iwan neigte den Kopf.
    »Ich finde sie überall und beerdige sie hier«, erläuterte Fjodor. »Damit es menschenwürdig ist. Verstehen Sie, Iwan?«
    »Ja. Ich verstehe Sie.«
    »Petersburg ist eine engelische Stadt«, sagte Fjodor.
    »Eine Engelsstadt?«
    Der Alte schmunzelte.
    »Eine englische, meinte ich.«
    Er lehnte sich zurück und begann zu lesen. Leise, ein wenig entrückt und mit Pausen an den richtigen Stellen.
    Sie ist schön und grimmig wie ein Pavian, der mit englischer Pfeife und Schirm promeniert,
    der karierten, schottischen Plaid trägt und sich dicke Schals um den Hals drapiert.
    Er spricht mit allen auf Russisch, präzise, sauber, bedächtig,
    ist von altem Leningrader Blute und auch anderer Zungen mächtig.
    Stoisch und für alle ein Rätsel, öffnet er nächtens die weiten Brücken,
    lässt sich mit Wanten und Galoschen, Brötchen und Rinnsteinen schmücken.
    Die Pfeife hat er heut nicht dabei und das Saxofon zu Haus vergessen.
    Stolz ist er, stolz. Und das Saxofon spielt wie besessen.
    »Ein Puschkinscher Backenbart würde diesem Pavian auch gut zu Gesicht stehen«, kommentierte die Stimme des Oberführers.
    Iwan hatte gar nicht mitbekommen, dass er in die Bibliothek gekommen war, und drehte sich nach ihm um. Der frisch geschorene Skinhead stützte sich mit seinen sehnigen Händen auf eine Stuhllehne. Unter dem Ärmel seines T-Shirts lugte das Hammer-und-Sichel-Tattoo hervor. Auf seinem kantigen Gesicht mit den eingefallenen Wangen spielte der Lichtschein der züngelnden Flamme. Das Gesicht des Oberführers war schön und gespenstisch wie ein Sonnenuntergang in der postatomaren Welt.
    Fjodor sah den Skinhead überrascht an.
    »Stimmt«, pflichtete er bei. »Sie haben ein gutes Gespür für Poesie, Ober…«
    »Andrej«, sagte der Oberführer.
    Es war an der Zeit, zur Sache zu kommen. Schließlich hatten sie das Himmelfahrtskommando zum Leningrader AKW nicht zum Vergnügen unternommen.
    »Meiner Heimatstation steht eine Katastrophe bevor«, berichtete Iwan. »Sie wurde abgeriegelt und von der Stromversorgung abgeschnitten. Wir sind hier, damit an der Wassileostrowskaja die Lichter wieder angehen. Können Sie

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