Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
das hörte man permanent.
Die Erde drückt, wie Onkel Jewpat immer sagte. Er hatte mal in einer U-Boot-Einheit gedient und verstand etwas von Druck. Onkel Jewpat wusste überhaupt viel.
Zum Beispiel, warum jener Krieg ausgebrochen war. Gerechtigkeitshalber muss man sagen, dass in der Metro eigentlich jeder den Grund für die Katastrophe kannte. Nur, dass jeder dazu seine eigene – und natürlich die einzig richtige – Version hatte. Sobald irgendwo »Veteranen« aufeinandertrafen, wurde bis zum Erbrechen gestritten: Wer ist schuld?
Die Antwort war einfach: Ihr selbst seid schuld.
Viel wichtiger war: Was machen wir jetzt?
Man erzählte sich die Legende von einem Tiger, der aus dem Zoo ausbrach und in die Metro flüchtete. Der hatte es geschafft, der Streuner. Die Alten beteuerten, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, wie er über den Bahnsteig lief, aufs Gleis hinuntersprang und im Tunnel verschwand. Die einen behaupteten, er sei in Richtung Newski prospekt gelaufen, andere sagten, in Richtung Petrogradskaja .
Wahrscheinlich nur eine schöne Legende, dachte Iwan bedauernd.
Ein Märchen.
Genauso wie Wodjaniks Erzählungen von Spanien, wo er sich kurz vor der Katastrophe aufgehalten hatte. Iwan hatte dem Professor seinerzeit zugehört und bei sich gedacht: noch so ein Märchen. Dein Spanien, Wodjanik, gibt es nicht mehr, und die grünen Parks von Barcelona auch nicht. Die Paläste von Gaudí (Wer soll das überhaupt sein?) sind zu Staub zerfallen und die Spanier krepiert.
Aber sah es hier etwa besser aus?
Beim Anblick der ausgestorbenen Prachtstraßen von Sankt Petersburg lief es einem kalt den Rücken herunter. In Kronstadt spukten die Geister von Marinesoldaten. Von Zarskoje Selo mit seinem weitläufigen Park und dem Palast waren nur Erinnerungen geblieben.
»Es gab damals so Bonbons, die hießen Batontschiki«, hatte Wodjanik erzählt. »Wenn man jemanden fotografieren wollte, sagte man nicht ›lächeln‹ zu ihm, sondern: ›Sag mal: Meine Lieblingsbonbons heißen Kis-Kis.‹ Dabei kam dann immer ein Lächeln heraus. Das Nilpferd aber – wie war das gleich wieder in dem Witz? Ach ja. Das Nilpferd war groß und sagte: ›Meine Lieblingsbonbons heißen Bato-ontschiki.‹ Kapiert? Wieso nicht? Habe ich irgendwas ausgelassen? Jedenfalls waren das seine Lieblingsbonbons. Sehr lecker. Und das Nilpferd sagte eben: ›Bato-ontschiki‹. Lustig, oder? Nein? Seltsam.«
Iwan lächelte gequält. Die Bato-ontschiki – auch so ein Märchen.
Er betrachtete den Bahnsteig. Das war die harte Realität. Eine tote Station.
Plötzlich hörte Iwan hinter seinem Rücken ein dumpfes Knurren. Langsam drehte er sich um. Ihm stockte der Atem.
Vor ihm stand ein Tiger.
Ein echter, wie auf der Abbildung im Kinderlexikon. Riesig. Schön. Und weiß. In seinen grünlichen Augen verlor sich das dämmrige Licht der Lampe.
Da hast du dein Spanien, dachte Iwan.
Im ersten Moment wusste er nicht, wie ihm geschah. Erst als die Wand auf ihn zustürzte, ihn an der Schulter traf, dass er umkippte und in die trübe, dreckige Brühe stürzte, begriff er: Hier läuft etwas schief.
Der Tiger, dachte er.
Er lag auf der linken Seite. Die untere Sichtscheibe war zur Hälfte mit Wasser bedeckt. Wie durch ein Wunder war die Lampe nicht ausgegangen. Iwan beobachtete, wie jemandes Beine in den Lichtkegel traten … nein, keine Beine. Iwan hörte sich atmen. Glück gehabt. Er war kurz davor gewesen, in Panik zu geraten, doch das Wasser blockierte seinen Filter, Iwan bekam keine Luft, und das brachte ihn wieder zur Besinnung.
Plötzlich wurde ihm klar, dass nicht die Wand ihn umgeworfen hatte.
Jemand hatte ihn angegriffen, verflucht.
Bumm, bumm, machte es in seiner Brust. Hilflos lag er in der Wasserlache. Nicht einmal das Gewehr konnte er anlegen. Scheiße!
Der gewaltige Adrenalinstoß schärfte seine Sinne. Er sah, wie sich im Schein der Lampe bewegte, was er für die Beine eines Menschen gehalten hatte. Es waren Tentakel. Durchsichtige Fangarme, die sich geschmeidig wanden, als wären sie aus weichem Glas.
Iwan handelte instinktiv. Im nächsten Moment stand er auf den Beinen, das Gewehr im Anschlag. Und noch ehe er einen Gedanken fassen konnte, knatterte die Kalaschnikow los: Ta-ta-ta! Ein Geräusch, als würde man Nägel in ein Eisenfass schlagen.
Eine Reihe kleiner Fontänen jagte über das Wasser und streifte den durchsichtigen Tentakel. Der zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. Iwan riss das Gewehr weiter nach links und
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