Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
zwei, drei … Bei vier schwenkte das Maschinengewehr abermals. Wenn man die Linie des Laufs gedanklich fortsetzte, endete sie genau bei dem zweiten Stein.
Der dritte Stein landete noch einen Meter näher an der Tür. Das Maschinengewehr schwieg. Wieder richtete sich der Lauf neu aus und verharrte.
Iwan trat einen Schritt näher. Und noch einen. Das Maschinengewehr rührte sich nicht. Das Gehen fiel ihm mit jedem Schritt schwerer, als kämpfte er sich durch zähen Matsch, in dem die Stiefel stecken blieben.
Iwan fiel plötzlich ein, wie das an der Primorskaja gewesen war, als diese Bestie ihm die Sinne vernebelte. Oder war doch das Moos schuld gewesen? Dieser eigenartige, stechende Geruch.
Und dann dieser Tiger … Stopp!
Das musste er sich durch den Kopf gehen lassen. Iwan blieb stehen und blickte langsam nach oben. Der Lauf des Maschinengewehrs war nun genau auf ihn gerichtet. Er hatte den Eindruck, als würde das schwarze Mündungsloch sich weiten und ihn buchstäblich ansaugen. Das war so ähnlich wie bei einem vertikalen Schacht. Du stehst davor und schaust hinunter in die Finsternis. Dann überkommt dich der zwanghafte Drang, einen Schritt nach vorn zu tun und allem ein Ende zu machen.
»Und?«, erkundigte sich Schakilow, als Iwan wieder zurückkam.
»Nichts.« Iwan hatte sich der mysteriösen Tür bis auf wenige Schritte genähert, war dann jedoch umgekehrt. »Mein lieber Freund, was wir beide hier machen, ist völlig daneben. Wir haben schließlich Familie. Du sowieso. Und ich habe Tanja.«
Schakilow wiegte das kugelrunde, kurz geschorene Haupt, auf dem sich erstes Grau ins schwarze Haar mengte, und auf seinem Gesicht erschien ein triumphierendes Grinsen.
»Dann hast du es also endlich kapiert. Willkommen im Klub.«
»Sieht so aus«, sagte Iwan. »Es war ja auch höchste Zeit.«
Iwan springt über die niedrige Einzäunung des Bahnsteigs, landet weich in der Hocke und sieht sich um. Die am Lauf des Gewehrs befestigte Lampe lässt er ausgeschaltet. Das vorhandene schwache Licht muss reichen.
Wenn das bloß keine Falle ist, denkt er. Ein unangenehmer Gedanke.
Iwan schwenkt das Gewehr von links nach rechts. Nichts. Dann legt er es auf den Granitboden – ganz vorsichtig, damit das Metall nicht klirrt. Er zieht das schwere nepalesische Khukuri-Messer mit der gekrümmten Klinge und macht sich bereit. Das Khukuri hat er vom Oberführer geerbt – man kann es wie ein Beil benutzen.
Dann viel Glück …
Mit angehaltenem Atem späht er um die Ecke der Säule. Im ausgeleuchteten Raum rührt sich nichts. Der bordeauxrote Marmorboden der Ploschtschad Wosstanija ist gut zu sehen, obwohl der Leuchter mit der schweren Messingeinfassung, der am Übergang zur Majakowskaja steht, die einzige Lichtquelle ist.
Wo sind nur ihre Wachposten?
In der Linken hält Iwan einen langen Stab, an dessen Ende ein kleiner Spiegel befestigt ist. Er schiebt sich bis zum Rand der Säule vor und streckt vorsichtig den Arm aus. Im Spiegel sieht er den leeren (!) Bahnsteig in Richtung Tschernyschewskaja . An der entfernten Wand ein Mosaikbild: irgendwelche Leute, seltsam gekleidet. Iwan richtet den Spiegel anders aus. Wieder nichts. Alles leer.
Da stimmt doch was nicht.
Wo sind die denn alle?
Eine Falle?
Iwan will schon zu seinem Gewehr zurückgehen und versuchen, auf die andere Seite des Bahnsteigs zu gelangen (ohne Deckung, verdammt), als sich im Spiegel plötzlich etwas bewegt.
Ganz sicher, da hat sich etwas gerührt.
Iwan kniet lautlos nieder, dann streckt er den Spiegel abermals vor. Er muss aufpassen, dass ihn die Lichtreflexe des Spiegels nicht verraten. Andernfalls kommt er wohl nicht mehr lebend hier weg. Iwan hält die Luft an.
Als er schon aufatmen will, sieht er einen schwarzen Schatten, der sich bewegt, und bemerkt ein schwaches Schimmern: brüniertes Metall. Eine Waffe.
Wollen wir mal sehen, wer schneller ist.
Iwan geht um die Säule herum. Die vorgestreckte Klinge des schweren Khukuri zerteilt die schwüle Luft.
Iwan tritt aus der Deckung und verharrt. Unglaublich. Er reibt sich die Augen.
Vor ihm liegen schlafende Menschen. Viele Menschen. In Decken gehüllte Moskowiter. Ohne Bewachung. Dutzende, wenn nicht sogar alle zweihundert.
Er tritt einen weiteren Schritt vor und holt zum Schlag aus.
Köpfe abschlagen, sagt ihr?
Wie ein Beil saust das Messer herab. Dunkelrotes, fast schwarzes Blut spritzt.
Iwan erwachte mit einem tonlosen Schrei. Er stand völlig neben sich. Die grauenhafte Vorstellung, soeben
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