Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
Natürlich gab es diverse Survivalisten, Goths und so weiter. Aber auch sie wollten keinen Krieg. Sie spürten lediglich ihren Willen.« Specht reckte die Arme empor wie ein betender Muslim. »Schwache Menschen, aber sehr sensibel. Wenn ein Wunsch nur stark genug ist, kann er jeden hypnotisieren. Sie wollte den Krieg. Sie , nicht wir.«
»Wer ›sie‹?«, fragte Iwan, obwohl er schon wusste, dass ihm die Antwort missfallen würde. Mist, dachte er, schon wieder so ein Psychopath.
»Die Metro«, antwortete Specht ernst. »Verstehst du? Alle, die darin fuhren, Millionen von Menschen weltweit. Die Metro gab es schließlich überall, in Moskau, in London, in New York, angeblich sogar in Mexiko. Die Metro wollte diesen Krieg. Sie ist gierig und dumm. Heimtückisch zwar, das schon, sonst hätte sie ihr Ziel nicht erreicht, aber dumm. Früher sind die Menschen einfach ihres Weges gegangen. Jetzt hat die Metro es so eingerichtet, dass sie ständig in ihr gefangen sind. Und sie frisst die Menschen auf, nach und nach, ganz ohne Eile. Wir alle verschwinden, sie dagegen bleibt.«
»Die Metro?«, fragte Iwan noch einmal nach.
»Die Metro«, bestätigte Specht. »Warst du schon mal im Lüftungsschacht Nummer zweihunderteins? Das ist einer mit Luftfilteranlage.«
»Eher nein«, erwiderte Iwan.
Die Lüftungsschächte, vor allem die alten, noch vor den Siebzigern erbauten, waren mit Luftfilteranlagen ausgerüstet. Die Luft wurde durch ein ganzes System von Kohlefiltern gereinigt, außerdem gekühlt und so weiter. Der Nummer nach zu schließen war der von Specht erwähnte einer der ältesten überhaupt.
»Die Metro hätte eigentlich längst verrotten und auseinanderfallen müssen«, sagte der Prophet. »Aber sie ist wie neu. Und das hat alles mit dem Lüftungsschacht Nummer zweihunderteins zu tun. Verstehst du?«
»Gewiss«, sagte Iwan und erhob sich. »Danke für deine Gastfreundschaft. Es gibt also einen Schacht, sagst du?«
Specht nickte.
So ist es immer: Nach anfänglicher Begeisterung kommen einem rasch die ersten Zweifel.
Iwan prüfte die Schachtwand mit der Hand. Feucht. Er fuhr an dem rauen Beton entlang und betrachtete seinen Handschuh. Nass.
Der Skizze nach zu schließen, die Specht aufgezeichnet hatte, führte dieser Schacht am Gleistunnel vorbei und endete in ebenjenem ominösen Lüftungsschacht Nummer zweihunderteins, der sich kurz hinter der Station Ploschtschad Wosstanija beim Verbindungsgang zwischen den beiden Röhren befand.
Hoffentlich haben die dort keine Patrouillen, dachte Iwan. Bei diesen paranoiden Moskauern kann man nie wissen.
Iwan musste schmunzeln. Schakilows Meinung über die Moskowiter hatte sich mit der Zeit nicht geändert, sondern eher einen leicht holzigen Beigeschmack angenommen. Wie alter Whiskey. In der Sankt Petersburger Metro gab es allerdings nur noch Wodka.
Iwan schaltete die Stirnlampe ein und legte sich auf den Boden.
Wenn man in so ein Rattenloch schon hineinkriecht, dann mit den Füßen voran. Man kann sich dann wieder zurückschieben, wenn man stecken bleibt. Kriechst du andersherum hinein, findet man später irgendwann deine vertrocknete Leiche – oder auch nicht. Weiß der Geier, wann diese Schächte gebaut wurden, da kann man sich schnell mal drin verirren. Hier ist bestimmt schon seit Ewigkeiten keiner mehr rumgekrochen. Nicht einmal Zombel.
Iwan verzog das Gesicht. Zombel. Wieder mal ein Gedanke zur rechten Zeit, verdammt. Die Zombel hausten an verlassenen Stationen, in Tunneln, alten Lüftungsschächten und ungenutzten Toilettenanlagen. Wovon sie sich ernährten, wusste keiner so genau: vermutlich von Abfällen, von den Pilzen, die in den Tunneln wuchsen, und von allem, was sie bei den Bewohnern zivilisierter Stationen erbettelten oder klauten. Hartnäckigen Gerüchten zufolge aßen Zombel auch Menschenfleisch.
Schon mehrfach war Iwan auf menschliche Knochen gestoßen, die fein säuberlich abgenagt waren und manchmal Spuren spitzer Gegenstände aufwiesen. Ratten waren sein erster Gedanke gewesen. Aber nicht sein letzter …
Über die Zombel kursierten allerlei unappetitliche Geschichten. Angeblich entführten sie Kinder, die sie dann in Fässern einsalzten. An der Frunsenskaja hatte es offenbar mal einen richtigen Aufstand gegeben, als sich dort eine ganze Horde von ihnen in einer Entwässerungsstation einnistete. Das Volk reagierte aufgebracht, rannte die Stationspolizei über den Haufen und räucherte das Zombelnest kurzerhand aus.
Und schon war es so weit.
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