Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Betonwand. Das grelle Licht der Stationsbeleuchtung störte ihn hier kaum, denn eine seltsame Konstruktion aus Aluminiumrohren, eine Art Hebebühne, schirmte ihn dagegen ab. Normalerweise benutzte man solche Türme, um Lampen auszuwechseln, doch dieser war mit einer Plane abgedeckt, und Iwan war dankbar dafür. Der Schatten der Plane lag zu seinen Füßen.
Iwan streckte die Beine aus. Sein Rücken fühlte sich an, als wären sämtliche Muskeln und Sehnen darin versteinert. Vorsichtig bog Iwan die Schultern zurück und biss die Zähne zusammen. Der Schmerz strahlte in den ganzen Körper aus. Langsam drehte er den Kopf bis zum Anschlag – knackend renkte sich ein Wirbel ein.
Die Luft in der Bahnsteighalle hatte ihren Namen nicht verdient: Betonstaub, stechender Pulverdampf und dazu der säuerliche Geruch ungewaschener, verschwitzter Körper. Der Gestank von Angst und Hass.
Das war aber auch ein Tag. Verdammte Moskowiter, zur Hölle mit euch! Iwan lehnte den Hinterkopf gegen die raue Wand und hörte auf einmal das sanfte Spiel eines Akkordeons. Ruhe. Frieden. Ein Frieden, wie er ihn nicht mehr empfunden hatte, seit er zuletzt an der Wassileostrowskaja in seinem Zelt gelegen und Tanja die Hand zwischen die Beine gelegt hatte. Tanja. Die Gedanken zerbröselten und verloren sich irgendwo in der Ferne. Iwans Bewusstsein verfiel in einen wohligen Dämmerzustand. Gedankenlosigkeit.
Der Hals schmerzte. Iwan schluckte. Sollte er sich erkältet haben? Oder hatte er einfach nur zu viel herumgeschrien?
Egal. Ausruhen. Nur ausruhen. Diesen Moment auskosten. Wir haben gesiegt. Alles ist zu Ende. Wir haben gesiegt.
Zu welchem Preis? Auch schon egal.
Nur noch ein Weilchen im Schatten sitzen, bevor die Mühle wieder von vorne losgeht: Befehle geben, Wachen einteilen, Aufräumarbeiten …
Iwan hatte plötzlich die verängstigten, in sich zusammengefallenen Gesichter der gefangen genommenen Moskowiter vor Augen. Tja. Sie hätten eben den Generator nicht klauen sollen. Er empfand keinen Zorn bei dem Gedanken, höchstens einen müden Ärger. Und einen seltsamen Beigeschmack.
Als hätte er etwas getan, was nicht ganz richtig war.
Nicht nachdenken. Ausruhen.
Die Leiche des Feindes riecht angenehm. Oder ist das in der Metro etwa anders?
Iwan überlief ein Schauer. Er zitterte und Tränen traten ihm in die Augen. Die Nachwehen der Anspannung? Seine Bauchmuskeln krampften sich so heftig zusammen, als würden sie sich für immer verknoten.
Wenn das nur schnell vorbeigeht, bevor jemand was mitbekommt.
Endlich. Er spürte, wie die letzten Wellen schwarzen, animalischen Zorns allmählich verebbten. Erleichtert lehnte sich Iwan zurück und in seinem Körper machte sich das wohlige Gefühl der Entspannung breit.
Ihr hattet eure Chance.
»Chef!«, rief jemand.
Iwan reagierte nicht sofort. Er gönnte sich noch ein paar Sekunden in der Dunkelheit der geschlossenen Augen. Sein Gesicht brannte. Die Ohren auch.
Was war da los? Doch krank geworden? Das fehlte noch.
Iwan fielen die Epidemien von früher ein, als man die Stationen dichtmachte und auf jeden Fremden, der im Tunnel auftauchte, sofort geschossen wurde. Das Problem eines abgeschlossenen Systems. Jede ernsthafte Epidemie konnte die gesamte Bevölkerung auslöschen.
Iwan öffnete die Augen. Vor ihm stand Solocha.
»Was willst du?«, fragte Iwan und legte die Stirn in Falten.
Solocha wippte von einem Bein auf das andere. Bei seiner Bohnenstangenfigur sah das furchtbar komisch aus. Wie eine Zirkusnummer. Ein Mann auf Stelzen.
Iwan fiel die letzte Zirkusvorstellung ein. Fahrende Artisten waren zur Station gekommen. Das Mädchen auf der Kugel, Jongleure, Kartenleser. Ein Zauberer. Seltsam übrigens, er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Normalerweise waren sie ständig auf Tournee durch die gesamte Metro, das hatten die Zirkusleute selbst gesagt. Wie hieß gleich wieder dieser weißblonde Typ? Signor Antonelli? Genau, er hieß Anton.
»Scheiße.« Solocha verzog das Gesicht, als hätte er Zahnweh. »Echt voll die Scheiße …«
Iwan zögerte. Wie schön wäre es gewesen, wieder in die Dunkelheit zurückzusinken und an die Artisten zu denken. An dieses geschmeidige Wesen auf der Kugel zum Beispiel …
»Na schön«, sagte Iwan und rappelte sich mühsam hoch. »Dann zeig mir mal, wo die Scheiße am Dampfen ist.«
Ein Feuerwerk der Farben in völliger Stille. Und der lautlose Flug der Kugel unter das Gewölbe der
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