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Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter

Titel: Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schimun Wrotschek
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vergessenes Tütchen Zucker am Tisch. Es ist aus Papier und trägt die Aufschrift: »Süß«.
    Eine orangefarbene Serviette.
    Seit Freitag klimper ich diesen Blues,
    mal sauf ich, mal nicht, völlig abstrus.
    Seit Jahren renn ich mit dem Kopf gegen die Wand,
    sie schmeckt schon ganz salzig, wie meine Hand.
    Iwan hat Tom Waits’ schauderhaft krächzende Stimme im Ohr. In der bleiernen Stille knattern die Milliröntgen, und die Gammastrahlung dringt durch die dünnen Wände.
    Ein Echo.
    Iwan steht auf der Straße und hört den radioaktiven Blues.
    In seiner Hand hält er eine Doppelflinte.
    Er geht zwischen den Autos hindurch über den Newski-Prospekt. Anstelle der Fenster gähnen schwarze Löcher in den Häusern – die blinden Augen, durch die Sankt Petersburg auf Iwan herabschaut. Ein trübes, gespenstisches Sankt Petersburg. Alt, wahnsinnig und furchtbar. Wie ein greiser, schwarzer, zahnloser Bluessänger in einem vergilbten Hemd.
    Iwan hat eineISch-43K in der Hand. Er legt den Hebel um – klack – und kippt die Läufe ab. Die Zündhütchen glänzen. Kaliber zwölf. Schrotpatronen. Mannstoppwirkung mit Schmerzverlängerung.
    Iwan klappt die Läufe wieder hoch und spannt die Hähne. Klick, klick. Es sind keine eigentlichen Hähne, sie spannen nur die Schlagfedern. Trotzdem ein cooles Gefühl.
    Iwan kommt an einem Buchladen vorbei. Hier am Newski-Prospekt gibt es sie an jeder Ecke. Wie die Cafés. Eigentlich gibt es fast nur Buchläden und Cafés. Höchstens mal noch einen Klamottenladen dazwischen. Als hätten die Leute vor der Katastrophe nichts anderes zu tun gehabt, als im Café zu sitzen und Bücher zu lesen.
    Noch ein Geschäft. Die Scheibe ist eingeschlagen. Im Schaufenster steht eine Gliederpuppe mit einer Perlenkette um den Hals. Ein weißer Arm ist abgebrochen und liegt daneben. Am Handgelenk – ein violetter Armreif.
    Klunker.
    Iwan schlängelt sich zwischen den Autos hindurch, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Es muss viel los gewesen sein an dem Tag, an dem alles zu Ende ging. Jetzt stehen die Autos still. Hunderte. Tausende. Ihre Besitzer sitzen immer noch am Steuer, nur skelettiert und mit hängenden Schädeln. Iwan geht um einen weißen Skoda herum und erreicht den Bürgersteig.
    Ein Stück weiter vorn hinter dem Eisenzaun befindet sich das runde Eingangsgebäude der Station Ploschtschad Wosstanija mit seiner Rotunde und der langen Spitze. Sieht lustig aus, wie ein hockender Zwerg.
    Die einst senffarbenen Wände sind nachgedunkelt und heben sich nur wenig von der grauen Düsternis der Umgebung ab. Wie ein weiches Kissen legt sich der Nebel auf das runde Dach des oberirdischen Vestibüls.
    Iwan hebt den Kopf. Über dem Eingangsgebäude der Metro erhebt sich ein fünfstöckiges Gebäude, auf dem in gigantischen weißen Lettern geschrieben steht: »Heldenstadt Leningrad«.
    Ein Teil der Buchstaben ist heruntergefallen.
    Was für ein Zufall, denkt Iwan. Dasselbe ist auch mit meinem Leben passiert.
    »Iwan«, ruft jemand.
    Er wendet sich um. Sein erster Gedanke: Ich wundere mich über nichts mehr.
    »Iwan«, sagt Kossolapy. »Wach auf, Iwan.«
    »Wozu? Ich bin doch tot«, erwidert er. »Ich weiß, dass ich gestorben bin. Ich wurde bei einer Explosion an der Primorskaja verschüttet. Und dann habe ich vom Krieg geträumt. Von Tod und Grausamkeit. Von Verrat. Von einer Station in der Farbe des Blutes. Von einem Dieselgenerator, der in einem alten Bunker vor sich hin rostet. Und jetzt sehe ich dich. Vielleicht ist das die allerletzte Nanosekunde meines Lebens. Der Sauerstofftod des Gehirns, nicht wahr?«
    »Nein«, entgegnet Kossolapy. »Das ist alles tatsächlich passiert.«
    Iwan denkt eine Weile über Kossolapys Worte nach, dann antwortet er: »Ich will nicht zurück.«
    »Es muss sein, Iwan.«
    Das Erste, was er sah, als er die Augen öffnete, war ein blauer Lichtschein. Die angenehme Farbe war jedoch das einzig Gute daran – das Licht wurde von einer Klinge reflektiert, die zu einem riesigen, rostigen Jagdmesser gehörte. Wenn Iwan nicht alles täuschte, hafteten sogar feine Härchen an dem ramponierten, fleckigen Stahl.
    Ach, Sasonow! Der Idiot kann einen nicht mal ordentlich erschießen, dachte Iwan. Und so was will ein Digger sein.
    »Lecker!«, sagte ein glatzköpfiger Zombel. »Du bist bestimmt lecker.«
    Jetzt bin ich dran.
    »Hau ab!«, zischte Iwan und robbte zurück.
    Der ungebetene Feinschmecker schwang sein Jagdmesser …
    »Was, zum Henker, habt ihr hier verloren?!«, polterte

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