Piter - Wrotschek, S: Piter - Metro-Universum: Piter
klar, wozu der Schacht diente. Weiter oben im Schacht befanden sich ein hermetisches Tor und eine Schleusenkammer – der Ausgang nach draußen. Digger benutzten hin und wieder die Schächte der Luftfilteranlagen, um zur Oberfläche zu gelangen. Allerdings war dies ein mühseliges Unterfangen, selbst wenn sich noch eine intakte Leiter im Schacht befand: Immerhin musste man siebzig Meter Höhe überwinden. Wenn man dann noch Sachen schleppte oder die Leiter vereist war, wurde die Angelegenheit zur Strapaze.
Iwan hatte sich diese Tortur nur einmal angetan, damals, als ihn die Veganer verfolgten, und da war ihm nichts anderes übrig geblieben.
Er sah sich um. Die Luftfilteranlage war gut in Schuss. Offenbar wurde sie regelmäßig gewartet. Er leuchtete die Wand aus. Halb verwitterte Ziffern auf dem Beton – die Nummer des Schachts. Keinerlei Auffälligkeiten. Iwan ging zum Ausgang zurück.
Er wollte gerade wieder aufs Gleis hinuntersteigen, als es ihn plötzlich wie ein Stromschlag durchfuhr.
Verdammt. Das gibt’s doch nicht!
Iwan ging noch einmal zurück. Sein Herz pochte heftig.
Sicher hatte er sich das nur eingebildet …
Vor der Wand stellte er die Tasche ab und hob die Lampe. Ganz langsam, als wollte er hinauszögern, dass sich seine Befürchtung bestätigte. Schließlich erschienen die roten Ziffern im Lichtkreis.
Iwan trat näher und fuhr mit der Hand über den Beton. Er war brüchig, trocken und rau. Auf seinem Handschuh blieb weißer Staub zurück.
»Und das hat alles mit dem Lüftungsschacht Nummer zweihunderteins zu tun«, hatte Specht zu ihm gesagt, der verrückte Philosoph von der Station Ploschtschad Wosstanija .
Iwan hatte soeben den Ort gefunden, um den sich alles in der Metro drehte.
An der Wand stand die Nummer 201.
Neben der Nummer stand ein Spruch. Iwan las ihn, schmunzelte und schüttelte den Kopf.
Na klar, der war ja quasi obligatorisch.
»Was steht denn da?«
Iwan erschrak. Er hatte nicht bemerkt, dass der Blinde ihm nachgegangen war. Und überhaupt – woher wusste er überhaupt, dass dort an der Wand etwas geschrieben stand? Manchmal hatte Iwan den Eindruck, dass der Alte in Wahrheit alles sah und aus unerfindlichen Gründen nur so tat, als wäre er blind.
»Enigma ist ein guter Mensch TM«, las Iwan. »Wer ist das?«
Was hatten die Zombel dem Alten auf ihrer Flucht hinterhergerufen? Iwan sah den Blinden prüfend an.
Der zuckte mit den Achseln, so als wollte er sagen: Höre ich zum ersten Mal.
»Kennst du ihn?«
Der Alte schüttelte flüchtig den Kopf, doch es war offensichtlich, dass er diesen geheimnisvollen Enigma sehr wohl kannte. Trotzdem tat er so, als wüsste er von nichts.
Na gut. Das war sein gutes Recht.
Jeder hat schließlich ein paar Leichen im Schrank.
Zurück am Gleis fiel Iwan auf, dass er seine Tasche vergessen hatte. Er ging wieder zurück. Der Alte stand immer noch im Raum und wippte mit dem Oberkörper hin und her wie in Trance. Sein weißes Haar leuchtete in der Dunkelheit.
»Sie mögen mich doch, die Gauner«, brummte der Alte, wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel über die tränenden Augen und wippte weiter. »Sie mögen mich.«
Iwan hob leise seine Tasche auf und ging zum Ausgang. Er hatte Herzklopfen.
Was ging hier eigentlich vor?
»Ein weißer Tiger kann in der freien Natur nicht überleben«, sagte der Alte. »Das zu deiner Frage, warum ich ihn aus dem Käfig gelassen habe. Darin ähnelt er uns Menschen. In der Natur fallen Albinos zu sehr auf. Sie verhungern entweder oder fallen normal gefärbten Tigern zum Opfer. So ist es mit uns Menschen auch. In der wilden Natur, die uns umgibt, sind wir die Albinos. Stell dir vor, man würde dich irgendwo aussetzen, wo dir alles fremd ist. Und wo du selbst fremd bist. Jetzt, wo sich draußen alles verändert hat, sind wir Menschen so etwas wie Tiger auf dem Mars. Schon mal von fremden Planeten gehört? Sogar die Metro bietet dem Tiger wenigstens ein bisschen Vertrautheit.«
Iwan schwieg. So war das also.
»Und es gibt keinen Ausweg?«
»Für den Tiger oder für die Menschen?«
»Für den Tiger. In der Stadt.«
Der Alte überlegte.
»Doch, es gibt einen.«
»Und der wäre?«
»Er kann zum Menschenfresser werden.«
Neunundsiebzig, achtzig. Iwan beendete die Liegestütze und stand schweißgebadet auf. Seine Arme zitterten vor Erschöpfung. Immerhin, das regelmäßige Training brachte ihn allmählich wieder in Form. Jetzt waren die Übungen mit dem Ball an der Reihe. Reaktion, Koordination,
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