Pittys Blues
Seele und einen Charakter. Als der Blechhaufen am vorangegangenen Tag den Dienst verweigert hatte, weder Dicks Pick-up bergen, ja noch nicht einmal auf die Lichtung kommen wollte und Pepper darauf bestanden hatte, es läge an der Lichtung, den Menschen, den Umständen und überhaupt an allem, nur nicht an kaputten Drähten, da war allen klar, dass bei Pepper endgültig ein paar Sicherungen durchgebrannt waren.
Und während Pepper sich am nächsten Morgen in der Nähe der Lichtung aus seinen Decken schälte, sich am Arsch kratzte und Hunger bekam, faltete sich Vera mit einem Stöhnen aus den Laken ihres Bettes und nieste
dreimal so herzhaft, dass sie lachen musste und ihr gleichzeitig die Tränen kamen.
Das Lachen ging, die Tränen blieben.
Sie schnäuzte kräftig in ihr leicht ergrautes, spitzenumsäumtes Taschentuch, wischte kurz nach und seufzte. Der Blick aus dem Schlafzimmerfenster sagte ihr, dass es schon wieder schneite. Der Himmel war grau und trübe, und auf den Straßen und Böden Rickvilles war keine Farbe außer Weiß zu sehen. Im Zimmer herrschte Dämmerlicht.
Und Vera sah in den Flocken ihre Jugend, ihre Schönheit und ihr Leben verblassen. Was machten bloß die Menschen, bei denen es immer schneite? Brachten die sich um? Vera schob ihre Gedanken beiseite und stand auf, begann den Tag, wie sie jeden ihrer Tage begann. Ein anständiges Frühstück würde ihr Gemüt schon wieder in Ordnung bringen.
Aber auch ein gutes Frühstück änderte nichts an der Tatsache, dass sie einsam war. Sie erinnerte sich daran, dass Ben Simmons auf ihrem Sofa lag.
Leise schlich sie zur Treppe und spähte ins Erdgeschoss. Sie sah Simmons zwar nicht, aber sie konnte ihn schnarchen hören. Vera verwarf ihren letzten Gedanken. Sie war vielleicht einsam, aber verzweifelt war sie nicht.
Sie kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, ließ sich auf ihr Bett fallen und schaute aus dem Fenster in den Schnee. Sie verlor ihren Blick in den feinen Flocken, die in ihren kleinen Eiskristallen die Seufzer derjenigen mit sich trugen, die sie sahen. Kleine Botschafter des
Vergessens, des Vertragens und Verschmerzens. Das Eis kühlte die Gemüter und fror ihr Leid ein. Und in dem Moment, in dem ein Gefühl sie auftaute, bahnten sich Geschichten ihren Weg. Es schien, als wäre am vorigen Morgen eine riesenhafte, sehr tief hängende Wolke über Rickville und Umgebung geschwebt und hätte den gesamten Landstrich vom normalen Wetter abgetrennt. Und so war es auch.
Es war noch früh. Eigentlich zu früh für Rickville. Unter normalen Umständen hätte Pepper sich jetzt noch ein- bis zweimal umgedreht. Aber normal war hier seit gestern nichts mehr.
Später an diesem Morgen, oder sagen wir besser am späten Vormittag, wachte Pitty auf und erschrak. Sie wusste nicht, wo sie war. Es dauerte, bis sie sich erinnerte, dass sie mit zu Dick gegangen war, sie erinnerte sich an den vergangenen Abend.
Und dann hatte sie sich zu ihm aufs Sofa gelegt.
Nach und nach fiel Pitty wieder alles ein. Vorsichtig löste sie sich aus Dicks Umarmung, und ohne ihn aufzuwecken, stand sie auf und huschte zum Fenster.
Sie sah durch das Glas. Der Himmel hing tief, war schneeschwanger. Sie wollte ihn anfassen. Wollte die feuchte Kälte spüren, jetzt, da die Flocken wieder anfingen zu fallen. Sie hörte, wie ihr die Flocken etwas mitzuteilen versuchten, wie sie nach ihr griffen, genau so, wie Pitty nach ihnen greifen wollte. Sie hielt ihr Herz instinktiv zu, verschloss sich mit einem Blick auf Dick.
Pitty fühlte ein Ziehen in der Brust, dieses Ziehen, das man spürt, wenn jemand nicht da ist, der da sein sollte.
Meine Mom und Moe haben gesagt, dass das ein Zeichen von Liebe sei. Ich erinnere mich daran, dass ich dieses Ziehen manchmal hatte, wenn meine Katze weggelaufen war und ich nicht wusste, ob sie noch lebte.
Natürlich lebte sie noch, sie war ein viel zu gerissenes Miststück, als dass sie sich bei ihren Beutezügen hätte erwischen lassen. Aber allein die Vorstellung, sie könnte irgendwo liegen, steif und kalt, und ich hätte nicht gewusst, wo ich nach ihr hätte suchen sollen, allein die Vorstellung hat ausgereicht, um dieses Ziehen in der Brust zu fühlen.
Meine Mom sagte mir des Öfteren, sie fühle ein Ziehen in ihrer Brust, wenn sie mich schlafen sieht und anfängt, über den Tag nachzudenken, und in meinem Gesicht die Züge meines toten Vaters wahrnimmt.
Pitty hatte Sehnsucht nach Dick. Sie hatte dieses Ziehen in der Brust. Die Chancen, ihn
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