Pixity - Stadt der Unsichtbaren
worden, jeder Raum in einer anderen freundlichen und beruhigenden Pastellfarbe. Ein Belüftungssystem sorgte für Frische und optimal gleichmäßige Raumtemperatur, und wenn Bentner tatsächlich noch den Mief der Anfangsjahre zu riechen glaubte, diesen geballten Gestank, dann spielte ihm die Erinnerung einen Streich.
Er ging den Flur entlang. Im ersten Zimmer residierte Almuth, »Assistentin der Geschäftsführung«, wie man nun Sekretärinnen zu benennen pflegte, die gute Mutti und Seele des Ladens, erste Angestellte auch, von Alina im Vorzimmer einer Weiterbildungsfirma entdeckt und sofort in die schöne neue Welt der IT-Branche gelockt. Bentner hörte das emsige Klappern auf der Tastatur hinter der Tür und ging weiter.
»Programmierung«. Das Schild an der Tür schnürte ihm die Kehle zu, er behielt die plötzlich aufkommende Wut für sich. Irgendwann vor einem halben Jahr hatten sie zusammengesessen, die verbliebenen Vier, und es war Sarkovy gewesen, der, ein wenig herumdrucksend und mit meisterlich gespielten Skrupeln, darauf verwiesen hatte, Pixity sei programmiertechnisch fertig, hier und da ein paar kleine Aktualisierungen, nichts Großes mehr. »Das musst du dir doch nicht antun, Nils, oder? Du gehörst zur Geschäftsführung. Ein paar Codeklopper – entschuldige – finden wir schnell. Und du weißt, dass es andere, wichtigere Aufgaben für dich gibt.«
Er hatte sich gewehrt. Ihm war schlecht geworden bei dem Gedanken, das Herz von Pixity irgendwelchen jungdynamischen Karrieredeppen zu überlassen. Aber sie hatten ihn überstimmt. Mit Zweidrittelmehrheit, wie im Gesellschaftervertrag vorgesehen. Und zum ersten Mal begann es Bentner zu dämmern, dass der Abgang von Gorland das erfolgreiche Ende einer Intrige gewesen sein könnte und er, Bentner, vielleicht als nächstes Opfer auserkoren. Schließlich hatte er die Hände gehoben und der Entscheidung resigniert zugestimmt.
»Auswertung«. In diesem Raum hockte ein merkwürdiges Wesen namens Kammann, das man kaum zu Gesicht bekam. Er kam jetzt immer als erster in die Firma, sprach mit niemandem außer Claus und Michael, vergrub sich in Statistiken und wertete sie aus. Das war die eigentliche Goldgrube. Daten. Daten, aus denen man Nutzerprofile erstellen und gewinnbringend an die werbende Wirtschaft verkaufen konnte. Das hatte bei Gorland endgültig das Fass zum Überlaufen gebracht, er hatte sich vehement dagegen gewehrt, »ihr macht die Kids zur bloßen Profitmasse, ich stimme dem nicht zu!«, doch auch er war überstimmt worden, dreimal waren die Arme sofort in die Höhe gegangen, alle blickten auf Bentner, der zögerte und dann doch, warum auch immer, ebenfalls den Arm hob. Gorland war aufgestanden und aus dem Zimmer gerannt. Ich bin ein Idiot, dachte Bentner und ging langsam weiter.
Die Türen seiner Mitgeschäftsführer würdigte Bentner keines Blickes. Auch die zum größten Büroraum, in dem Grafiker, Propagandisten, Hiwis und Lehrlinge bereits emsig zum Wohle der Firma schufteten, beachtete er nicht. Etwas kroch in ihm hoch, Wut, Angst, was auch immer.
An der vorletzten Tür blieb er stehen. Kein Licht kam unter ihr hindurch, Bentner lächelte. Lisa Steinwach, 22, studentische Hilfskraft und, als wolle sie dem zweiten Teil ihres Nachnamens hohnsprechen, ständig zu spät zur Arbeit erscheinend und auch dann gefährlich verschlafen blinzelnd. Lisa war die einzige, die mit Bentner direkt zusammenarbeitete, eine Sozialpädagogikstudentin wie damals Alina, nicht ganz so geschmacklos gekleidet, aber fast.
»Security Board Manager«. Er hätte ihnen jedes Wort, jeden Buchstaben einzeln in die Fressen zurückprügeln können. Natürlich hatten sie Recht. Im Prinzip. In Pixity tummelten sich inzwischen nicht nur Tausende Kids. Kevin war 16 und meldete sich als kevin_16 an oder geisterreiter oder geiler_boy. Lisa, 14, war Lisa_14, vielleicht auch kisslädyy oder sweetlisa. Doch es gab auch Heinz, 51 oder Horst, 28, und in Pixity hießen sie mark_16 oder monalisa. Das waren die Fakes, Typen, die mit minderjährigen Mädchen und Jungs chatteten, nicht selten nackt vor einem Spiegel und den Knüppel in der Rechten, während die Linke tippend fragte, seit wann Lisa ihre Tage habe (»ey, kannst unter mädis doch sagen ☺ «) oder ob es sich Kevin gerade auch selbst besorge. Sie tauchten auf wie die Pest, sie waren dumm oder clever, sie gaben sich als coole Jungs oder süße Mädchen aus, ein bisschen bi schadet nie, »bist auch bi? Hast schon ma mit
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