Plaetzchen unter dem Mistelzweig
sie früh genug hier war, bevor im Gebäude großer Betrieb ausbrach. Nach nur drei Stunden Schlaf war ihre Fähigkeit, Small Talk zu betreiben, heute auf ein Minimum geschrumpft – sie wollte sich allein auf die Aufgabe konzentrieren, die vor ihr lag, mehr nicht.
»Erster Stock … Zweiter Stock – DING !«
»Morgen, Laurie !«, rief ihr Jacques hinter der Empfangstheke von Seamless zu, als Laurie den Aufzug verließ.
Jacques, ein elegant gekleideter Franzose, hatte gerade erst bei dem noblen Modeunternehmen angefangen und war in den letzten Wochen jeden Tag so früh zur Arbeit gekommen, um einen guten Eindruck zu machen. Laurie nickte ihm höflich zu, ging weiter und passierte auf dem Weg zu ihrem Eckbüro die langen Reihen noch unbesetzter Schreibtische. Sie schaute sich um. Ihr Chef Danny war noch nicht da, und wie es aussah, war Gillian, die Geschäftsführerin mit dem eisernen Willen, die Einzige, die außer ihr schon bei der Arbeit war. Laurie konnte erkennen, wie sie hinter der Trennwand aus Milchglas saß und telefonierte.
Laurie schloss ihre eigene Bürotür hinter sich und betrachtete die Aussicht aus ihrem Fenster.
Doppeldeckerbusse und Taxis krochen die große Hauptstraße The Strand hinunter, vorbei an glitzernden, weihnachtlich dekorierten Schaufenstern, und auf den Gehsteigen drängten sich die Berufspendler und Touristen auf dem Weg zum Trafalgar Square. Ihr Büro jedoch war eine Oase der Ruhe, mal abgesehen von dem gedämpften Verkehrslärm.
Laurie setzte ihre Tasche ab, ließ sich auf dem Drehstuhl nieder und schaltete den Computer an. Während er hochfuhr, richtete sie sich an ihrem makellos sauberen Schreibtisch ein, dessen kühle Oberfläche leicht nach einem Zitrusreiniger duftete. Nach ein paar Tagen im Ausland – und einem Durcheinander aus Flughäfen, neuen Gesichtern und anonymen Hotelzimmern – fühlte es sich gut an, wieder zurück in London zu sein.
Ihr Computer meldete wie gewohnt die neu eingegangenen E-Mails, doch Lauries Blick wanderte zur Pinnwand hinüber. Dort hingen ein paar Stoffmuster, Ideen für die Seamless-Frühjahrskollektion der Accessoires sowie ihr Kalender. Ein Datum stach besonders hervor: Montag, der 20. November – heute.
Navajo Taschen ! stand dort rot umkringelt und war seit Monaten so markiert. Laurie lächelte. Navajo war die exklusive neue Kollektion von Seamless mit Accessoires für den Winter – und sie war dafür verantwortlich. Die Handtasche, die heute auf den Markt gebracht werden sollte, war das maßgebliche Designerstück, um das sich die komplette Kollektion drehte und das die dezente Eleganz der gesamten Produktpalette verkörperte. Im Sommer hatte sie ihre ersten Skizzen der Tasche angefertigt und seitdem ausschließlich für diesen Tag, an dem die Tasche auf den Markt gebracht werden sollte, gelebt, geatmet und geträumt. Wenn alles glattging, könnte dies ihr großer Tag sein. Die Werbekampagne rund um die Präsentation der Tasche war von einem noch nie da gewesenen Ausmaß – sämtliche Hochglanzmagazine hatten Features und Meldungen bezüglich der Tasche abgedruckt, und die Marketingabteilung von Seamless stand schon in den Startlöchern, um die Tasche als Werbegeschenk an eine Auswahl von Top-Stars zu verschicken.
Während sich ihre E-Mails auf dem Bildschirm öffneten, genehmigte sich Laurie einen Schluck Kaffee. Nachdem sie nun monatelang an den Entwürfen für die Tasche gefeilt und ihre Produktion überwacht hatte, stand nun die erste Warenanlieferung aus China bevor. Am Freitag war Laurie nach zwei Tagen in der Fabrik vor den Toren Beijings zurückgekehrt, wo sie die Troddeln an den Taschen überprüft hatte, während diese am Fließband an ihr vorbeijagten. Der Plan für heute war recht einfach: Sie würde die frisch angelieferten Taschen schnell noch einmal in Augenschein nehmen und grünes Licht geben, damit sie rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft an die Läden ausgeliefert werden konnten – und dann die Stadt durchqueren, um die gesamte Navajo-Produktpalette bei der speziell dafür ausgerichteten Präsentationsfeier zu bewerben. Seitdem Laurie zur Chefdesignerin der Accessoiresparte aufgestiegen war, hatte noch keine andere ihrer Kollektionen so viel Beachtung in den Medien gefunden. Sie war bereit für diesen großen Augenblick.
Zur Feier dieses Ereignisses trug sie ein tailliertes, schiefergraues Kleid und schwarze, kniehohe Stiefel. Ihren kastanienbraunen, glänzenden Bob hatte sie glattgeföhnt und dazu
Weitere Kostenlose Bücher