Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
mussten. Sonnenlicht fiel durch Lücken in den Brettern, wo Astnarben schon vor langer Zeit verrottet waren. Die Glasscheiben der beiden Fenster nahe der Tür filterten das Tageslicht durch die Schicht aus Schmutz und Sand, die draußen vom Garten stammte.
»Willkommen zu Hause, Doung Seyha«, flüsterte die Stimme, die von überall und nirgendwo zu kommen schien. »Ist es nicht schön, nach all den Jahren wieder hier zu sein?« Ein leises Kichern ging in ein Knurren über.
Bitte, ich hab dir nichts getan. Lass mich allein.
»Oh, sicherlich. Lass mich allein. Du bist allein, hast du das nicht bemerkt? Still jetzt ... sei still.«
Ein Mädchen, nicht älter als vier oder fünf Jahre alt, kam in den Raum gerannt und versteckte sich am gegenüberliegenden Ende derjenigen Bank, auf der Seyha saß. Die Kleine bemerkte die Frau nicht, mit der sie die Sitzgelegenheit teilte – oder hatte sich entschieden, sie zu ignorieren. Seyha versuchte zu sprechen, eine Unterhaltung zu beginnen mit irgendjemand anderem als dem Dämon, der ihren Geist quälte. Sie konnte nicht; dies war eine Albtraumwelt in einer Albtraumzeit. Das Gesicht des Mädchens war nass vor Tränen. Seyha beobachtete, wie es sich hinter dem Rücken der Kirchenbank versteckte. Zur selben Zeit knabberte es rasch an einem Feigenplätzchen; es nahm keine großen Bisse; nicht solche, die man machte, wenn man etwas so schnell wie möglich verschlingen wollte, bevor es andere wegschnappen konnten. Die zögerliche Knabberei des Mädchens zeigte, dass es hungrig war, aber das Plätzchen nicht vollständig aufessen wollte.
Seyha wusste, was das kleine Mädchen dachte, kannte ihren Hunger. Es war nicht ängstlich, sondern einsam. Und obwohl die Tränen kullerten, war es auf diese verquere Art eines Kindes aufgeregt in Anbetracht der Aussicht, von Schwester Angelique gefunden zu werden. War es doch auf diese Weise möglich, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu ergattern, auch wenn es bedeutete, später noch eine Tracht Prügel verabreicht zu bekommen. Darum knabberte es lediglich an dem Plätzchen, denn würde es das ganze Gebäckstück auf einmal vertilgen, könnte die Nonne es nicht des Diebstahls bezichtigen, weil es sich einen zusätzlichen Happen von dem Teller eines anderen Kindes stibitzt hatte. Schwester Angelique würde es sonst bloß wegschicken, nach hinten in den Garten mit den restlichen neunzehn Jungs und Mädchen des Waisenhauses.
Seyha sah sich selbst zu, die junge Doung Seyha – zumindest hatte der Dämon den Familiennamen korrekt ausgesprochen –, die genau an diesem Tag fünf Jahre alt geworden war. Es war ihr Geburtstag gewesen. Sie hatte weder Geschenke erhalten noch hatte sie welche erwartet. Alles was sie gewollt hatte, war etwas Aufmerksamkeit von der schönen, fremdartigen Frau, die nun rasch in die Kapelle lief.
Es würde allerdings doch ein Geschenk geben, eine Puppe aus mehreren Stoffresten zusammengesetzt, mit Blättern ausgestopft und ein lächelndes Gesicht, das mit einem Stift gemalt worden war. Das Spielzeug hatte Angelique selbst schon früher in jener Woche angefertigt.
Seyha beobachtete die junge Nonne, die mit dem langen, goldenen Haar (sie trug selten die typische Tracht ihres Ordens) und den runden, blauen Augen schön und exotisch wirkte, an diesem Ort voll dunklen Haars und kantigen Zügen. Sie sah, wie Angelique zu der richtigen Kirchenbank lief, als ob sie die Gedanken des kleinen Mädchens lesen könnte. Die Schwester griff grob nach Seyhas schmächtigem Ärmchen und zog sie auf die Beine.
»Seyha«, sagte sie streng. Als Erwachsene mit gereiftem Blick war Seyha überrascht, als sie Erheiterung in den Zügen der Nonne entdeckte. Obwohl sie gebürtige Amerikanerin war, sprach Angelique fließend Khmer und nutzte diese Gabe, um den Kindern Englisch beizubringen, von dem sie auch jetzt Gebrauch machte. »Gib mir den Keks.«
Die junge Seyha verstand wahrscheinlich nicht jedes Wort – nicht, nachdem sie erst vor so kurzer Zeit angekommen war –, jedoch übergab sie das Feigenplätzchen mit niedergeschlagenem Blick.
Sag etwas, versuchte Seyha ihr mitzuteilen. Sprich mit ihr. Schwester Angelique schritt vor dem Mädchen auf und ab und schalt es leise in Khmer, dass es mehr als seinen Anteil genommen habe. Wie würde sie es denn finden, wenn Makaria ihre Sachen wegnähme? Und all das gerade an so einem Tag wie heute!
Das Mädchen schaute für den Bruchteil einer Sekunde auf. Plötzlich erinnerte sich Seyha an diesen Moment,
Weitere Kostenlose Bücher