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Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis

Titel: Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel G. Keohane
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der nunmehr über dreißig Jahre zurücklag, mit solch einer Klarheit; diese Bestätigung ihres Geburtstages, so indirekt sie auch gewesen sein mochte. Die Nonne gab nicht länger vor, dass sie ärgerlich war. Angelique hatte dem Mädchen, wie Seyha jetzt verstand, genau das gegeben, wonach es sich gesehnt hatte, bevor es wieder hinaus in die Hitze und den Dreck geschickt wurde. Später an diesem Abend würde die Schwester Seyha auf ihrer Matte sorgfältig zudecken und ihr die provisorische Puppe in den Arm drücken. Sie würde auf Englisch »Alles Gute zum Geburtstag« flüstern und zum nächsten Kind weitergehen. Seyha würde die Worte nicht verstehen, aber in dem schwachen Licht so lange auf die Puppe starren, bis ihre Augen vor Erschöpfung zufielen. Seyha fragte sich jetzt, was wohl mit dem Geschenk geschehen war.
    Nachdem die kleine Seyha wieder nach draußen geschickt worden war, sah sich die Nonne in der Kapelle um. Sie erstarrte und blickte unverwandt auf jene Stelle, an der die erwachsene Seyha auf der splitterigen Kirchenbank saß. Schwester Angelique ließ den Blickkontakt keinen Moment abreißen. Seyha starrte zurück. Nach einem Augenblick kräuselte sie verwirrt die sonnenverbrannte Stirn, von der sich die Haut schälte. Die Nonne schlug ein Kreuz, bevor sie hinaus ins Licht verschwand.
    Seyha blieb allein sitzen, fühlte die Feuchtigkeit in der Luft und hörte von draußen das Summen der Insekten, die immer irgendwo herumwuselten. Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie, dass es auch gute Momente – so kurz sie auch gewesen sein mochten – in ihrem Leben gegeben hatte. Auch wenn Seyha sie damals nicht verstand.
    Das Brummen der Insekten wurde lauter. Schwarze Tupfen – große, fliegende Käfer – bewegten sich zu schnell, um sich darauf konzentrieren zu können und füllten wie Rauch das Innere der Kapelle. Sie landeten auf der Bank, krochen über ihre Arme und Beine, über ihr Gesicht. Seyha stand auf, schlug nach ihnen, drehte sich um und rannte los. Doch sie stolperte über einen Holzklotz und stürzte in ein Gestrüpp.
    Sie sah nach oben und krabbelte rückwärts. Wohin war die Kapelle verschwunden?
    Das dämonische Gelächter kehrte zurück, tief, höhnisch und immer direkt hinter ihr.
    Überall schrien Menschen. Schmutzige Gesichter, tränenverschmiert – sieben Männer in zerrissenen Uniformen schoben einander beiseite, als sie einige Mädchen im Teenager-Alter zur gegenüberliegenden Seite der Straße schleppten. Seyha sah sich um, blickte nach unten und hinter sich und bemerkte zum ersten Mal, worüber sie gestolpert war. Die Fliegen bedeckten bereits vollständig die Leiche ihrer Mutter; die Biester waren über sie hergefallen, sobald sie gestürzt war, noch bevor das Blut aufgehört hatte, aus der Schusswunde in ihrer Stirn zu fließen.
    Seyha blickte unverwandt nach unten, während das übernatürliche Gelächter hinter ihr tanzte. Trotzdem war es ein bloßes Hintergrundgeräusch für die realen Klänge der Kinder und Erwachsenen entlang des Straßenrandes, die aus Verwirrung und Wut weinten. Seyha starrte auf ihre Mutter und versuchte, ohne Stimme aufzuschreien. Sie hatte noch niemals zuvor von dieser Situation geträumt, denn jedes Mal, wenn ihr dieser Augenblick als eine undeutliche, bruchstückhafte Erinnerung in den Sinn kam, hatte sie alles immer – immer, immer, immer – weit von sich fortgeschoben. Jetzt war sie gefangen, musste ihrer Mutter in die Augen blicken, wie sie es einst vor langer Zeit an jenem Morgen getan hatte. Ihre Mutter war getötet worden, als sie ihre Töchter nicht an die unruhige Schar Soldaten aushändigen wollte, die sich dem Marsch angeschlossen hatten, den Seyhas Familie und auch so viele andere gezwungen waren, auf sich zu nehmen. Es war eine lange und unsinnige Reise gewesen. Die Männer – zumeist halbwüchsige Jungs, die allerdings zu turmhohen Monstern wurden für eine Dreijährige, die nun am Straßenrand gelegen hatte – hatten sich bereits so sehr an den Tod gewöhnt, dass deren Augen und Herzen schon lange unempfindlich geworden waren für die Handlung an sich.
    Der Mord war eine automatische Reaktion der jungen Roten-Khmer-Soldaten auf die Ablehnung von Seyhas Mutter; kein wirklich handfester Gedanke stand hinter dieser Tat. Ihre Mutter hatte nein gesagt, und der Junge in der viel zu großen Uniform hob seine Pistole und betätigte den Abzug. Die Frau sank zu Boden, als wäre sie durch eine Falltür gestürzt und hatte dabei die jüngste

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