Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
aufgebrochen in einfache Konstrukte, die Kinder verstehen konnten. Malen und Basteln waren dabei beliebte Hilfsmittel. Man redete ein wenig, ließ die Kinder etwas bauen und sie die Konzepte als Schöpfung ihrer eigenen Hände sehen. Bill liebte die Vormittage, an denen er unten mitarbeitete. Manchmal leitete er die Gruppe, andere Male half er als Assistent. An den wenigen Vormittagen, an denen Seyha Dienst versah, bestand sie stets darauf, in die Assistentenrolle zu schlüpfen.
Er setzte sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an, wartete, bis ein roter Kombi vorbeigefahren war und reihte sich anschließend in die Wagenkolonne dahinter ein.
»Wie oft, Billy, ist sie in diese Grube der Verzweiflung hinabgestiegen, die du als Kinder liturgie bezeichnest, hm?« Den letzten Wortteil dehnte die Stimme, als schmerzte es, ihn auszusprechen.
Bevor Bill den Dämon auffordern konnte zu schweigen, hakte sich die Frage in seinem Verstand fest. Wie oft wirklich? Einige Male, davon war er überzeugt.
»Es war dein erstes Mal«, hörte er sich sagen. Seine Kiefermuskeln bewegten sich bei den Worten auf und ab.
»Erstaunlich wie man dazu neigt, unangenehme Einzelheiten zu vergessen.«
Halt die Klappe!
»Zwing mich doch.«
Seyha schüttelte den Kopf. Nun, da sie sich auf dem Weg nach Hause befanden, hatte sich ihre Haltung entspannt. Sie wirkte ruhig, schwieg aber.
Wie oft, überlegte Bill, hatte sie nach diesem Tag unten mitgearbeitet? Er konnte sich nur an ein einziges Mal erinnern.
»Natürlich hat sie letztlich aufgehört, überhaupt zur Kirche mitzukommen, nicht wahr?«
Was kümmert dich das?
»Wer ist jetzt dein Leben?«
Die Kreatur hatte diese Frage bereits einmal gestellt, als Bill die Kirche verlassen hatte. Sie ergab keinen Sinn.
»Wirklich nicht?« Wieder ertönte jenes Lachen, ein Laut, der in seinem Ohr kitzelte und aus dem sprach: Ich weiß etwas, was du nicht weißt.
»Du weißt es sehr wohl, William Watts.« Die Stimme troff vor Abscheu und hörte sich ungeduldig an. »Aber Schmerz lässt sich so einfach verschleiern, wenn wir wollen, dass er verschwindet.«
Bill sah wieder Seyha an – oder durfte sie ansehen, weil sich sein anderes Ich ihr zudrehte. Sie war so wunderschön, noch schöner als bei ihrer ersten Verabredung auf jenem Hügel. Im strahlenden Licht des späten Vormittags wirkte sie noch lieblicher und perfekter als bei Kerzenschein im Cabel Grille , wo er ihr seine Liebe beteuert, ihr sein Leben versprochen hatte.
»Wer ist dein Leben?«, flüsterte die Stimme.
Plötzlich verstand er. Oder glaubte es zumindest. Sie war sein Leben. Seyha verkörperte sein Leben, seine Liebe. Sie war wunderschön und liebevoll, und sie würde seine Kinder gebären. Sie würden eine Familie gründen, gemeinsam alt werden. Er hatte keinen Fehler begangen, hatte sie nicht falsch eingeschätzt, nein ...
Mittlerweile lachte die Stimme zügellos und grölend. Bill konnte die entsetzlichen Wahrheiten – die entsetzlichen Lügen – weder aufhalten, noch aussperren. Ebenso wenig konnte er sein Ich im Traum davon abbringen, den Wagen zu parken, den Motor abzustellen und rasch hinten um das Auto herumzulaufen, um für seine Frau die Tür zu öffnen. Seyha lächelte, belustigt darüber, wie beharrlich er sich als Kavalier erweisen wollte. Er hatte sie schon immer angebetet, den Boden verehrt, auf dem sie lief.
»Ha, ha, ha, ha, ha!«
Halt’s Maul!
Zusammen erklommen sie die Stufen, dann schoben sie den Einkaufswagen um den Cornflakes-Ständer herum.
Sie befanden sich in einem Supermarkt. Der Übergang von der Veranda zum Stop ‚N Shop erfolgte schwindelerregend jäh. Hätte er zu blinzeln und sich auf den Griff des Einkaufswagens zu stützen vermocht, um sich zu orientieren, hätte er es getan. Aber Bill blieb ein bloßer Passagier dieser Zeitreise. Er konnte nur beobachten.
Wie ein Donnergrollen am Horizont ertönte das belustigte Kichern des Monsters, kündigte dessen Rückkehr an.
Was willst du von mir?
Keine Antwort. Seyha bog in den Frühstücksgang. Bill folgte ihr. Wie üblich kauften sie gemeinsam ein, eine Routine wie der Großteil ihres restlichen Lebens. Dieser Moment hatte nicht den Anschein, in irgendeiner Form bedeutsam zu sein. Nach wenigen Schritten hielt Seyha unvermittelt inne und schaute zu dem Cornflakes-Ständer zurück. Wahrscheinlich eher zu etwas dahinter, denn sie hasste gesüßte Frühstücksflocken.
Weiter unten im Gang zeterten Zwillinge im blauen und weißen Partnerlook
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