Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
Ellbogens. Die halben Haare fehlten bereits, waren der Puppe unbewusst von Seyhas Zähnen ausgezupft worden, während sie schlief. Weitere Einzelheiten der Puppe konnte sie nicht erkennen, zumal die einzige Beleuchtung im Raum von zwei Votivkerzen stammte, die zwischen einem Meer von rings um sie auf dem Boden kauernden Körpern schimmerten. Aber sie erinnerte sich an die Puppe. Es war nicht dieselbe, die Angelique ihr an jenem ersten Geburtstag nach ihrer Ankunft geschenkt hatte, sondern eine andere, die sie einige Jahre später aus einer Kiste erhalten hatte, die von unbekannten Menschen aus aller Welt geschickt worden war.
Langsam und vorsichtig setzte sich Seyha auf der Matte auf und zog die Beine an, um nicht den kalten Holzboden zu berühren. Die Matte bestand aus verwobenem Bambus und war groß genug für ein Kind, nicht jedoch für eine erwachsene Frau. Ihr Rücken schmerzte vom Schlafen auf einer solch harten Unterlage. Sie weinte immer noch leise; das Grauen ihres Vaters glich einem Gewicht, das sie auf die Matte drückte. Seyha weinte ihren Kummer und ihre Wut gegen den Kopf der Puppe.
Diesmal wusste Seyha, wo sie sich befand – in der rekonstruierten Welt ihrer Kindheit. In der Zuflucht, die man ihr vor den Monstern geboten hatte, die ihre Familie verschlungen hatten. Eingerollt auf der Matte spielte sie die Rolle ihres jüngeren Ichs, nach wie vor gefangen im Körper einer Erwachsenen.
Ein anderes Kind begann zu weinen, irgendein Junge unter den Dutzenden anderen, die im Licht der Kerzen schliefen oder zitterten. Das Weinen des Jungen vereinte sich mit dem ihren, übertönte es. Bald stimmte ein weiteres darin mit ein, dann noch eines. Binnen kürzester Zeit waren die meisten Kinder wach und heulten, riefen Namen, die Seyha nicht kannte, brüllten Worte, die sie nicht mehr verstand.
Niemand kam. Seyha hörte ihre eigene Stimme, die erst nach ihrer Mutter rief, dann nach Schwester Angelique, die zweifellos noch wach auf der anderen Seite der schweren Wolldecke weilte, die den Bereich der Erwachsenen von jenen der Kinder abtrennte. Zwei weitere Frauen lebten und arbeiteten hier zusammen mit Angelique. Bei einem solchen Radau, einer solchen Wolke von Verzweiflung, die in jede Ecke trieb, konnten sie unmöglich schlafen.
Seyha weinte lauter, wetteiferte mit den anderen Kindern um die Aufmerksamkeit, die sie ohnehin nicht erhalten würden. Dies geschah jede Nacht. Ein Kind wurde von einem Traum ereilt, von einer Erinnerung, die es nicht haben sollte, und erwachte schluchzend. Die anderen, aufgeschreckt aus ihrem leichten Schlaf, stimmten darin mit ein, weinten instinktiv oder aus Furcht, weil sie die Augen an diesem fremdartigen Ort aufgeschlagen hatten. Der Chor ihrer verwundeten Leben erhob sich von den Matten, bis sie in jeder Nacht eine gemeinsame Hymne des Elends heulten.
In jeder einzelnen Nacht.
Ich bin nicht hier!, dachte Seyha. Ich bin nicht hier!
Sie warf die Puppe beiseite, die bei einem kleinen Jungen landete, der ob der Berührung umso lauter weinte. Seyha stand auf, ragte über die Kinder auf wie eine Bäuerin inmitten eines Gartens tastender, sich windender Glieder. Niemand kam, weil der Chor letztlich enden würde, wenn Erschöpfung die einzelnen Stimmen in einen tieferen, friedlichen Schlaf zöge. Schwester Angelique wusste das natürlich. Sie harrte wartend auf der anderen Seite der Decke aus.
Seyha bewegte sich vorsichtig zwischen den Matten hindurch. Finger berührten ihre Beine oder schlossen sich um ihre Knöchel. Einfach weitergehen , sagte sie sich. Eine Hand ließ das Fußgelenk los, wurde jedoch sogleich von einer anderen abgelöst. Sie war eine Erwachsene inmitten eines Meeres von Kleinkindern, jemand, der den Ängsten ein Ende setzen konnte, der sich umdrehen und sich wenigstens neben ein Kind knien, es festhalten und beruhigen konnte, bis es sich wieder sicher fühlte.
Doch in ihr steckte nichts, was sie anderen geben oder mit ihnen teilen konnte. Sie war außerstande, diesen Kindern Sicherheit zu vermitteln, weil sie selbst keine empfand. Kurz flammte die Versuchung dennoch wie ein Streichholz auf, bevor es unter Schwefelgeruch erlosch. Seyha widerstand ihr, ließ das letzte Kind hinter sich und stellte sich vor die Tür. Noch konnte sie umdrehen und zurück in jenes Meer tauchen. Nicht, um andere zu trösten, sondern um sich wieder auf ihre Matte zu kauern und in den Chor mit einzustimmen. Wenn sie es täte, würde es nie enden. Die anderen würden auf sie krabbeln,
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