Plage der Finsternis - Keohane, D: Plage der Finsternis
keinem für Bill ersichtlichen Grund zu weinen. Ein Stück weiter tat es ein dicker Junge dem Mädchen gleich. Seine Mutter bemerkte es nicht. Irgendwo außer Sicht stimmte ein weiteres Kind in das Geheul ein. Alle Unterzehnjährigen in dem Laden verfielen plötzlich in trauervolle Aufregung. Der Lärm ihres Elends erhob sich über jenen der Erwachsenenstimmen und des seichten Gedudels im Hintergrund.
Reglos starrte Bill um sich. Er war Seyha nicht in den Gang mit den Schreibwaren gefolgt. Langsam schob er den Einkaufswagen weiter. Bill öffnete die Finger. Er konnte den Griff loslassen; er hatte sich wieder in der Gewalt. Das war gut, denn alles andere geriet außer Kontrolle.
»Bill!« Seyhas schrille Stimme.
Das ist nicht geschehen , dachte er. Nie. Er umfasste den Bügel des Wagens wieder und schrie geräuschlos zur Decke: Nichts von alledem ist wahr!
Er fand Seyha zwischen Regalen mit Blöcken und Druckerzubehör, Kugelschreibern, Bleistiften und großen Radiergummis. Sechs Kinder mit nassen Gesichtern, vier Mädchen und zwei Jungen, umzingelten sie. Sie berührten ihre Hose und streckten sich nach ihren Händen, die sie erhoben hatte, als hätte sie ihrerseits Angst, die Kinder zu berühren, vielleicht, weil sie fürchtete, sich eine Krankheit einzufangen. Jene Hände hatten Büschel ihres Haars gepackt und versuchten, sie sich wie eine Mütze über die Ohren zu ziehen.
Der Lärm der Kinder wurde lauter und hektischer. Von dort, wo sie hergekommen waren, stolperten weitere Kinder in Sicht, versperrten den Ausweg aus dem Gang. Aus ihren geschlossenen Augen strömten mit solcher Verzweiflung Tränen, dass Bill am liebsten zu ihnen gerannt wäre und ihnen gesagt hätte, dass alles wieder gut würde.
Er schaute zurück zu Seyha. Die Kinder schmiegten ihre Körper an ihre Beine. Sie starrte über ihre Köpfe hinweg zu ihm.
Sey , sagte Bill. Er ließ den Wagen stehen und rannte zu ihr. Als er sie erreichte, widerstand er dem Instinkt, die Kinder beiseitezutreten und packte Seyha über den Ellbogen an den Armen. Er würde sie vorsichtig aus dem Getümmel ziehen, dann würden sie gehen. Hinaus in die frische Luft.
Der Supermarkt hinter Seyha verblasste, verfinsterte sich zur Nacht. Flackerndes, rötliches Licht wurde vom Rand eines kaum auszumachenden Durchgangs reflektiert. Wie ein am Himmel vorbeiziehendes Flugzeug rasten die Geräusche des Weinens aus dem Supermarkt vorüber, ergossen sich wie eine Flut in die Schwärze jenseits dieser neuen Tür. Es füllte die Leere, wand sich herum und explodierte nach außen. Beinah erwartete er, das Seyha davon nach vorne geschleudert würde, doch sie starrte ihn nur mit geweiteten Augen an. Im plötzlichen Sternenlicht über ihnen bewegten sich ihre Lippen wortlos. Er schüttelte sie sanft, ohne sich umzudrehen, um zu sehen, wohin der Laden verschwunden war oder wohin sie gebracht worden waren. Stattdessen wollte er so tun, als hätte dieser neue Albtraum nicht begonnen. Abermals schüttelte er sie, diesmal kräftiger, sodass ihr Kopf hin- und herwackelte. Schließlich erkannte sie, dass er vor ihr stand. Ihre Augen glitzerten im spärlichen Licht, konzentrierten sich auf sein Gesicht.
Sey, ich bin’s! Bill.
Sie kreischte und wand sich in seinem Griff, als hätte sie einen Anfall. Dabei brabbelte sie Worte, die er nicht verstand, und wehrte sich zunehmend heftiger, um zu fliehen, vor ihm oder dem dunklen Ort hinter ihr. Dann wiederholte sie unablässig: »Nein, nein, nein ...«
Sey! Beruhig – »dich!«
Die Welt explodierte in Licht. Formen brannten sich in seine Sicht ein, wurden zum Esszimmertisch und der Küche dahinter. Sie standen am Rand des Wohnzimmers neben den schwarzen Fenstern. In den Armen hielt er immer noch Seyha, doch diesmal die echte, nicht die Frau seiner Visionen. Es war, als hätte er sie mit sich zurück in das Haus gezogen. Ihre Augen schlossen sich vor dem Licht, und sie hörte auf, sich zu winden. Bill registrierte, dass Seyha fiel, kraftlos zu Boden sackte, dann brüllte jemand, und Gem Davidson prallte rechts gegen ihn. Er versuchte, Seyha festzuhalten, aber ihr totes Gewicht entglitt ihm. Gems Finger gruben sich in sein Gesicht. Schmerz zuckte über seine Wangen, als ihre Nägel seine Haut aufrissen. Seyha rutschte ihm vollends aus den Händen, als er versuchte, das Mädchen davon abzuhalten, ihm die Augen auszukratzen.
In Seyhas Traum war ihr Vater verschwunden. Stattdessen hielt sie eine schmutzige, weiße Puppe in der Beuge eines
Weitere Kostenlose Bücher