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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Bezirk von Chinatown gab es nur sehr wenige Überfalle und Diebstähle. Mir war schleierhaft, wie sie das anstellten: Verfügten sie vielleicht über ein eigenes Netz von Aufpassern? Auf jeden Fall hatten sie uns gleich nach unserem Einzug ausgemacht; mindestens zwanzig Personen grüßten uns regelmäßig. Es kam selten vor, daß Europäer hier einzogen, wir waren in dem Hochhaus eine verschwindend kleine Minderheit. Manchmal schienen handgeschriebene Aushänge in chinesischen Schriftzeichen Versammlungen oder Feste anzukündigen; aber was für Versammlungen, was für Feste? Man kann jahrelang unter Chinesen leben, ohne je etwas von ihrer Lebensweise zu begreifen.
         Ich rief trotzdem meinen Kontaktmann an, der mir versprach, sich zu erkundigen ; zwei Tage später hatte ich ihn wieder am Apparat. Ich könne eine brauchbare Knarre in sehr gutem Zustand für zehntausend Franc bekommen - ein ausreichender Vorrat an Munition sei im Preis mit einbegriffen. Ich müsse die Waffe nur regelmäßig reinigen, damit sie nicht in dem Augenblick, in dem man sie benutzen wollte, eine Ladehemmung hatte. Ich sprach noch einmal mit Valérie darüber, doch sie weigerte sich erneut. »Das würde ich nie fertigbringen«, sagte sie, »ich hätte nicht mal genug Kraft, um abzudrücken.« »Selbst wenn du dich in Lebensgefahr befindest?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie noch einmal, »das ist unmöglich.« Ich beharrte nicht weiter darauf. »Als ich klein war«, sagte sie ein wenig später zu mir, »war ich nicht einmal fähig, ein Hühnchen zu töten.« Ich ehrlich gesagt auch nicht; aber einen Menschen, das schien mir weitaus einfacher zu sein.
        Um mich selbst hatte ich seltsamerweise keine Angst. Natürlich kam ich auch wenig in Kontakt mit den Barbarenhorden,
    außer wenn ich gelegentlich in der Mittagspause durch das Forum des Halles schlenderte, wo das subtile Ineinandergreifen der Sicherheitskräfte (Bereitschaftspolizei, Polizisten in Uniform, Wachmänner, die von einer Vereinigung der Geschäftsleute bezahlt wurden) theoretisch jede Gefahr bannte. Ich bewegte mich also innerhalb der beruhigenden Topographie von Uniformen ; ich fühlte mich ein bißchen wie im Zoo von Thoiry. In Abwesenheit der Ordnungshüter, das wußte ich, hätte ich eine leichte, wenn auch ziemlich uninteressante Beute abgegeben; meine ziemlich konventionelle Angestelltenkleidung war nicht gerade dazu angetan, sie anzulocken. Ich fühlte mich meinerseits in keiner Weise von diesen Jugendlichen, die den ge fährlichen Klassen entstammten, angezogen; ich verstand sie nicht und versuchte auch nicht, sie zu verstehen. Ich hatte weder für ihre Neigungen noch für ihre Wertvorstellungen etwas übrig. Ich hätte nicht den kleinen Finger gerührt, um eine Rolex, ein Paar Nikes oder einen B M W Z3 zu besitzen ; ich hatte es noch nie geschafft, den geringsten Unterschied zwischen einem Markenartikel und einem Artikel ohne Markenzeichen festzustellen. In den Augen der Welt hatte ich natürlich unrecht. Das war mir bewußt: Ich befand mich mit meiner Haltung in der Minderheit, folglich war sie falsch. Es mußte doch einen Unterschied zwischen den Hemden von Yves Saint Laurent und den anderen Hemden geben, zwischen den Mokassins von Gucci und den Mokassins von André. Ich war der einzige, der diesen Unterschied nicht wahrnahm; es war eine Schwäche, auf die ich mich nicht berufen konnte, um die Welt zu verdammen. Wendet man sich etwa an einen Blinden, wenn man einen Sachverständigen für die nachimpressionistische Malerei sucht? Durch meine Verblendung stellte ich mich, wenn auch ungewollt, außerhalb der lebendigen menschlichen Wirklichkeit, die immerhin stark genug war, um Opferbereitschaft und Verbrechen hervorzurufen. Diese Jugendlichen spürten mit ihrem Instinkt von Halbwilden bestimmt die Gegenwart des Schönen, ihr Begehren war lo
    benswert und entsprach vollkommen den sozialen Normen; eigentlich mußte nur dessen unangemessene Äußerungsform korrigiert werden.
         Nach reiflicher Überlegung mußte ich jedoch auch zugeben, daß Valérie und Marie-Jeanne, die beiden einzigen weiblichen Wesen, die in meinem Leben eine gewisse dauerhafte Rolle spielten, den Blusen von Kenzo und den Taschen von Prada völlig gleichgültig gegenüberstanden; soweit ich es beurteilen konnte, kauften sie tatsächlich mehr oder weniger beliebige Marken. Jean-Yves, der von allen meinen Bekannten das höchste Gehaltbezog, wählte am liebsten Polohemden

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