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Titel: Plattform Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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sich die Schuhe säubern, indem er sie auf dem Boden abrieb. Ich schob die Kröte mit dem Fuß ein wenig zur Seite: Ohne Eile bewegte sie sich auf den Wegrand zu. Ich schob sie noch ein Stück weiter : Sie gelangte auf den Rasen, wo sie relativ sicher war; ich hatte vielleicht ihr Überleben um einige Stunden verlängert. Ich hatte den Eindruck, in einer Lage zu sein, die der ihren kaum überlegen war: Ich war weder behütet im trauten Kreis einer Familie aufgewachsen noch in sonst irgendeinem Kreis, der sich über mein Schicksal hätte Sorgen machen, mich in einer Notlage hätte unterstützen oder über meine Abenteuer und meine Erfolge sein Entzücken hätte äußern können. Ich selbst hatte auch kein Gebilde solcher Art gegründet: Ich war ledig, ohne Kinder; niemand wäre auf den Gedanken gekommen, sich auf meine Schulter stützen zu wollen. Ich hatte gelebt wie ein Tier und würde einsam sterben. Einige Minuten lang aalte ich mich in einem Mitleid ohne Objekt.
        Andererseits war ich ein kompakter, widerstandsfähiger Block mit einer Körpergröße, die die durchschnittliche Größe der Tierarten übertraf; meine Lebenserwartung war vergleich bar mit der eines Elefanten oder eines Raben. Ich war etwas, das viel schwerer zu zerstören war als ein kleines Amphibientier.

        An den folgenden beiden Tagen verkroch ich mich in meinem Bungalow. Ab und zu schlich ich mich hinaus und lief zu dem Minimarket, um mir Pistazien und ein paar Flaschen Mekong zu kaufen. Die Vorstellung, Valérie wieder am Mittagsbuffet oder am Strand zu begegnen, war mir unerträglich. Es gibt Dinge, die man tun kann, und andere, die zu schwierig erscheinen. Nach und nach wird alles zu schwierig; darin läßt sich das Leben zusammenfassen.
        Am Nachmittag des 2. Januar fand ich unter meiner Tür den Beurteilungsbogen von Nouvelles Frontières. Ich füllte ihn gewissenhaft aus, kreuzte im allgemeinen die Felder »gut« an. In gewisser Weise stimmte das, alles war gut. Mein Urlaub war normal verlaufen. Die Rundreise war cool gewesen und trotzdem hatte ein Hauch von Abenteuer nicht gefehlt; sie entsprach der Beschreibung im Prospekt. In die Rubrik »persönliche Bemerkungen« schrieb ich den folgenden Vierzeiler:

    Heute fühle ich mich in eine andere Welt versetzt, In eine Welt mit genau definierten Rastern,
    Ich kenne die Modalitäten des Lebens, weiß, es ist vernetzt Wie ein Fragebogen mit angekreuzten Feldern.

    Am Morgen des 3. Januar packte ich meinen Koffer. Als Valérie mich auf dem Boot sah, unterdrückte sie einen Ausruf; ich wandte den Kopf ab. Auf dem Flughafen von Phuket verabschiedete sich Sôn von uns; wir waren zu früh dort, das Flugzeug flog erst in drei Stunden ab. Nach dem Einchecken irrte ich durch das Einkaufszentrum. Auch wenn die Flughafenhalle völlig überdacht war, hatten die Läden die Form von Hütten, mit Teakholzpfeilern und palmgedeckten Dächern. Das Warenangebot war eine Mischung aus internationalem Standard (Schals von Her
    mès, Parfums von Yves Saint Laurent, Handtaschen von Vuitton) und einheimischen Produkten (Muscheln, Nippsachen, thailändische Seidenkrawatten); alle Artikel waren mit einem Bar-Code ausgezeichnet. Kurz gesagt, die Läden im Flughafen bildeten noch einen Raum nationalen Lebens, aber eines in eine Sicherheitszone verwandelten, abgeschwächten, dem Standard des Weltkonsums angepaßten nationalen Lebens. Für den Touristen, für den die Reise zu Ende ging, handelte es sich um einen Zwischen-Raum, der nicht so interessant und zugleich nicht so beängstigend war wie der Rest des Landes. Ich hatte die Vision, daß die ganze Welt tendentiell immer mehr einem Flughafen gleicht.

        Als ich am Emporium vorbeikam, hatte ich plötzlich Lust, ein Geschenk für Marie-Jeanne zu kaufen; schließlich hatte ich nur noch sie auf der Welt. Eine Halskette, eine Brosche? Ich war gerade dabei, einen Korb durchzuwühlen, als ich zwei Meter neben mir Valérie entdeckte.
        »Ich suche nach einer Halskette...«, sagte ich zögernd.
        »Für eine Dunkelhaarige oder eine Blondine?« In ihrer Stimme lag ein Hauch von Bitterkeit.
    » Für eine blonde Frau mit blauen Augen. «
    »Dann nehmen Sie besser helle Korallen.«
        Ich reichte dem Mädchen an der Kasse meine Bordkarte. Während ich zahlte, sagte ich in ziemlich jämmerlichem Ton zu Valérie: »Das ist für eine Arbeitskollegin...« Sie warf mir einen seltsamen Blick zu, als sei sie sich unschlüssig, ob sie mich

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