Platzhirsch: Ein Alpen-Krimi (German Edition)
heraus, die sie dem jungen Mann zusammen mit einem Löffel reichte, dessen Stiel aus einem Bärenkopf bestand. Der junge Mann begann zu löffeln, lächelte und sagte in Irmis Richtung: »Bärenbrüder.« Irmi versuchte ebenfalls ein Lächeln und glaubte, sich noch nie im Leben so überfordert gefühlt zu haben wie in diesen Sekunden. Sie schaffte es gerade noch, Veit Bartholomä mit einer Kopfbewegung aus dem Raum zu lenken.
Draußen auf dem Gang erklärte er ihr: »Robbie ist Reginas Bruder. Eigentlich heißt er Robert René. Seine Mutter ist bei der Geburt gestorben, da war Regina sechs Jahre alt. Sie war Robbies ein und alles, und umgekehrt. Das Mädchen hat sich immer verantwortlich gefühlt. Eine Bürde für so ein Kind. Hieronymus, also ihr Vater, hatte keinen rechten Draht zu Robbie …«
In diesem Satz lag so viel. Keinen rechten Draht. Irmi vermutete, dass der Herr Gutsbesitzer sich geschämt hatte, das Kind abgelehnt hatte, sich oder die verstorbene Frau verantwortlich gemacht hatte.
Irmi sah den Mann mitfühlend an, und er fuhr fort: »Wir haben uns gekümmert, so gut es eben ging. Er arbeitet in einer betreuten Werkstatt, und normalerweise holt ihn ein Bus ab, die Werkstatt hat nur ausgerechnet heute wegen einer Besprechung der Betreuer geschlossen. Drum muss er das hier alles miterleben. Das dürfte gar nicht sein.«
Nein, das dürfte nicht sein. Überhaupt dürfte niemand das Leben eines anderen beenden. »Wie alt ist Robbie denn?«, erkundigte sich Irmi.
»Achtunddreißig, die Ärzte haben damals bei seiner Geburt gemeint, er werde keine achtzehn. Man hatte fast das Gefühl, als wollten sie ihn loswerden. Fast so, als sei das ein Trost, dass er sterben würde. Als würde das seine Eltern befreien und alle um ihn herum. Aber Robbie ist ein Engel. Er hat vielleicht eine andere Wahrnehmung der Welt, aber wer sagt uns denn, welche die richtige ist?« Bartholomä sah eher grimmig drein als gebrochen. Das war eine normale Reaktion für einen Mann. Verdrängen, die Contenance wahren. Nur war der Preis für diese Beherrschung oft hoch.
Irmi schluckte. Kürzlich hatte sie irgendwo den Satz gelesen: Man wirft ein Leben nicht weg, nur weil es ein wenig beschädigt ist. Sie lebten in einer Welt der Jungen und Schönen und Faltenfreien. In einer Welt, wo skrupellose Männer mit Milliardensummen jonglieren und Millionen anderer Menschen damit in ihrer Existenz gefährdeten. Wer hatte denn überhaupt das Recht, Normen aufzustellen? Diejenigen, die sich das Recht einfach nahmen? Mörder nahmen sich auch das Recht, über Leben und Tod zu bestimmen.
»Kann Robbie denn etwas gesehen haben?«, fragte Irmi. »Es wäre auch hilfreich, wenn wir die Abläufe im Haus kennen würden.«
Veit Bartholomä nickte. »Regina ist immer um fünf aufgestanden und war dann zwei Stunden im Büro. Anschließend weckt sie Robbie, Helga macht Frühstück, Robbie wird kurz vor acht abgeholt. Regina ist dann immer rausgegangen zum Tierefüttern und hatte häufig Besuch von Schulklassen oder Kindergartengruppen. Sie ist auch mit einer Eule und einem Falken in Schulen gegangen. Regina hat immer gesagt: Ich kann nur schützen, was ich kenne. Die Tiere bekommen dann gegen vier ihr Abendessen, die Ställe werden gepflegt. Wir essen um sechs Uhr zu Abend. Das war ein Ritual. Die Familie muss zusammen essen.«
Sie aß fast immer allein. Irmi schluckte. »War das auch gestern so?«
»Ja, Regina hat hinterher noch ein bisschen mit Robbie gepuzzelt, das liebt er. Wir haben massenweise große Puzzlebilder von Tieren. Es müssen Tierpuzzle sein, andere macht Robbie nicht.« Er lächelte wehmütig. »Robbie geht gegen acht ins Bett. Helga und ich ziehen uns auch zurück, Regina geht oft noch in ihr Büro.«
»Ein ganz schönes Pensum«, sagte Irmi. »Da bleibt wenig Zeit für Privatleben. Hatte sie einen Freund? Sie war eine sehr attraktive Frau.«
»Der letzte liegt ein halbes Jahr zurück. War ein Forstwirt. Berater bei den Staatsforsten. Ein arroganter Schönling, wenn Sie mich fragen. Er hat Regina nach Strich und Faden betrogen. Außerdem hatten sie sehr konträre Ansichten darüber, wie man so einen Besitz zu führen hätte.« Der alte Mann knurrte auf einmal wie ein Kettenhund. »Der is guad weiter!«
»Der hat ihnen das Kraut ausgeschüttet, oder?«, fragte Irmi in möglichst neutralem Ton.
»Ich mag es nicht, wenn Menschen, die ich liebe, gequält werden.«
Wer mochte das schon? Irmi versuchte ihre neutrale Gesprächsposition
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