Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)
zum Fest in der Laubhütte zu sitzen. Er steht diesem Onkel nicht wirklich nahe und ist nicht gerade hin und weg von Louisville, aber der Onkel hat ihm das Ticket als Geschenk geschickt, und Mikel ist geil auf die Bonuspunkte für Vielflieger, die er für den Flug erhält. Er macht eine Reise nach Australien in ein paar Monaten, und zusammen mit den Punkten für den Flug nach Louisville reicht das für eine Aufstockung zur Businessklasse. Bei langen Flügen, sagt Mikel zu mir, ist der Unterschied zwischen Business und Touristenklasse wie Tag und Nacht. Was ist dir lieber?, frage ich. Tag oder Nacht? Denn ich bin normalerweise ein Nachttyp, aber auch der Tag hat was, so was Spezielles, Strahlendes. In der Nacht ist es stiller und kühler, und das ist eine gravierende Überlegung, zumindest für mich, wo ich in einem heißen Land wohne. Aber in der Nacht kann man sich auch einsamer fühlen, wenn niemand bei dir ist, wenn du verstehst, was ich meine.
Tu ich nicht, sagt Mikel. Seine Stimme klingt hart.
Ich bin kein Homo, sage ich zu ihm, denn ich kriege mit, dass ich ihn in Stress gebracht habe. Ich weiß, dass sich dieses ganze Gerede von Einsamkeit und Nacht wie das Geschwafel von einem Homo anhört, aber ich bin keiner. In all den dreißig und noch was Jahren, die ich schon lebe, habe ich nur ein einziges Mal einen Mann auf den Mund geküsst, und auch das war halb aus Versehen. Ich war in der Armee, und da war ein Soldat dabei, der hieß Zlil Drucker, und er brachte Haschisch in die Basis mit und bot mir etwas zu rauchen an. Er fragte mich, ob ich schon mal geraucht hätte, und ich sagte, ja. Ich hatte nicht vor zu lügen, aber ich habe einfach so eine Eigenschaft, dass ich, wenn man mich was fragt und ich unter Druck bin, immer ja sage. Um gefällig zu sein. Diese Unart kann mir noch mal im großen Stil Schwierigkeiten einhandeln. Stellt euch mal vor, ein Polizist kommt ins Zimmer, sieht mich neben einer Leiche und fragt: Hast du ihn ermordet? Das kann übel ausgehen. Der Polizist könnte, mal angenommen, auch fragen: Bist du unschuldig? Dann komm ich gut dabei weg. Aber unter uns, welche Chance besteht, dass dich ein Polizist so was fragt? Wir haben zusammen geraucht, und es war echt ein total besonderes Gefühl. Die Droge hat mir schlicht den Mund verschlossen. Ich musste nicht mehr reden, um zu sein. Und Zlil sagte, dass ein Jahr vergangen sei, seit er sich von seiner Freundin getrennt habe. Dass ein Jahr vergangen sei, seit er eine Frau geküsst habe. Ich erinnere mich, dass er dieses Wort benutzte, »Frau«. Ich sagte zu ihm, dass ich noch nie eine Frau geküsst hatte. Oder ein Mädchen. Oder ein Kind. Auf den Mund war gemeint. Auf die Wange hatte ich eine ganze Menge geküsst. Tanten und Derartiges. Und Zlil schaute mich an und sagte nichts, aber ich sah, dass er überrascht war. Und dann, ganz plötzlich, haben wir uns geküsst. Seine Zunge war rau und säuerlich, wie der Rost auf dem Geländer an der Promenade. Ich erinnere mich, dass ich damals dachte, alle Zungen und Küsse, die ich im Leben haben würde, würden sich so anfühlen. Dass ich bis zu diesem Tag niemanden geküsst hatte – eigentlich hatte ich da überhaupt nichts versäumt. Und Zlil sagte: »Ich bin kein Homo«, und ich lachte und sagte: »Aber du hast einen Namen wie ein Homo.« Und das war’s, im Wesentlichen. Acht Jahre später traf ich ihn in irgendeiner Humusbude, und als ich ihn mit Zlil ansprach, sagte er mir, er heiße nicht mehr so, er habe seinen Namen im Innenministerium zu Zachi geändert. Ich hoffe, das war nicht wegen mir.
Mikel, der neben mir sitzt, hört mir schon längst nicht mehr zu. Am Anfang habe ich gedacht, er fühle sich unter Druck, weil er dachte, dass ich ihn anmachen will, danach fing ich an ihn zu verdächtigen, dass er eigentlich schon ein Homo ist und ihn meine Geschichte beleidigt hat, die ja quasi besagt, dass Küssen mit Männern eklig ist. Doch als ich ihm in die Augen schaue, sehe ich weder Beleidigung noch Bedrängnis darin, einfach nur viele Flugpunkte, die sich zu einer Aufwertung anhäufen, zu liebenswürdigeren Stewardessen, zu besserem Kaffee, zu mehr Beinfreiheit. Und als ich das sehe, fühle ich mich schuldig. Das ist nicht das erste Mal, dass ich das in den Augen von Menschen sehe, mit denen ich rede – nicht das mit der Beinfreiheit, sondern dass sie nicht mehr zuhören, dass sie an was anderes denken. Und immer fühle ich mich schuldig. Meine Frau sagt, das bräuchte ich nicht. Dass ich so
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