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P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben

Titel: P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
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schlechten Einfluss. Er führte zu Faltungen und Verwerfungen und dann in den Abgrund.
    Wir saßen an einem Tischchen in einer der Bahnhofbars von Marseille.
    »Ich habe einiges herausgefunden«, sagte Nora Nauer, »erstens folgt uns jemand. Tiziana in Suvereto hat mir mitgeteilt, dass ein Mann sich nach mir erkundigt hat, kaum dass ich abgereist war. Wir haben also einen Verfolger.«
    »Klingt spannend«, brummte ich.
    »Es ist ganz einfach: ein Baumdiagramm. Der erste Leser war Thomas Schneider – oder vielleicht auch Elsa.«
    »Elsa«, sagte ich, »sie hat sicher in die Notizbücher hineingeschaut. Vielleicht hat sie nicht alles gelesen, als sie merkte, dass es nicht um Familienangelegenheiten ging.«
    Nora Nauer ging mir mit ihrer Frische und ihrem Elan leicht auf die Nerven. Es war morgens um sieben. Ich hatte zwei Nächte schlecht geschlafen. Der Kaffee wirkte noch nicht.
    »Gut. Vielleicht hat auch Egon Ammann noch hineingeschaut. Als Verleger musste er ja wissen, worauf er sich einließ. Unser erster sorgfältiger Leser ist aber Thomas Schneider – und der zeigt überhaupt keine Symptome …«
    »Sind Sie sicher? Ich habe ihn noch vor einer Woche getroffen, und er wirkte, na, etwas gespannt, fast gehetzt, abrupt.«
    »Gehetzt? Ich rufe ihn an.«
    »Es ist sieben Uhr morgens.«
    »Okay, später. Ich checke die Verlags-Website.«
    Sie tat das umgehend. Ich betrachtete die Frühaufsteher um uns herum, die eilig ihre Kaffees und Croissants im Stehen konsumierten. Es waren wohl Verkäuferinnen, Lehrer, Beamte, Angestellte, Krankenpfleger. Keine Zeit für Manetti. Ganz andere Sorgen. Vielleicht mussten sie bald wieder für die Pensionierung mit 60 streiken. Wenn man bedenkt, dass sie es als Zumutung betrachten, erst mit 62 gehen zu können, während sich bei uns nur wenige eine frühzeitige Pensionierung in diesem Alter leisten können. Was bedeutete wohl eine frühzeitige Pensionierung in Frankreich? 55? 58?
    »Alles normal auf der Website. Thomas Schneider ist immer noch Cheflektor. Ob er aber wirklich da ist, können wir erst wissen, wenn wir ihn anrufen. Von dort aus geht’s dann weiter. An wen hat er Rezensionsexemplare verschickt? Wem hat er das Buch empfohlen? So können wir uns durch den Leserinnenbaum durcharbeiten.«
    Allmählich wirkte der Kaffee in meinem Nervensystem.
    »Wenn so viele Leser-äh-Innen verschwunden sind, müsste man das irgendwie bemerken. Leute müssten fehlen – Tramchauffeure, Architekten, Dentalhygienikerinnen, Kindergärtnerinnen, Steuerberater …«
    »Interessant, wer bei Ihnen Innen sind und wer nicht«, versetzte sie, immer noch eifrig mit ihrem iPhone zugange.
    »Tramchauffeusen, Architektinnen, Dentalhygieniker, Kindergärtner, Steuerberaterinnen, Herrencoiffeusen, Damencoiffeure, Urologinnen, Metzgerinnen, Archivare, Kampfpilotinnen …«
    »Schon gut.«
    »Sie alle würden fehlen. Das System müsste Löcher bekommen haben. Nur ich würde natürlich nicht fehlen. Sie fehlten. Für Margrit Limacher musste Frau Bannwart einspringen.«
    »Allein schon in der Region Zürich gibt es eine halbe Million Arbeitsplätze, da würden ein paar Hundert nicht groß auffallen.«
    »Sie müssten ein Profiling machen. Bücher werden vor allem von Frauen gelesen. Sie müssen gut Deutsch können, einen gewissen Bildungsstand haben. Sie werden hauptsächlich im Reproduktionsbereich tätig sein: Erziehung, Gesundheitswesen, Kultur. Das schränkt schon etwas ein. Leider.«
    »Für Profiling fehlen uns Zeit und Ressourcen. Ich versuche es mit Stichproben. Wir müssen gezielt Bekannte von Bekannten von bekannten Leserinnen anpeilen. Bis jetzt haben wir ein kleines Sample, und das ist positiv, sehr positiv.«
    »Wenn Thomas Schneider verschwindet, dann haben wir eine echte Hypothese. Kann ja sein, dass bei ihm die Inkubationszeit länger ist, dass seine Zweitlektüre erst später stattfand.«
    »Ich glaube noch nicht an diese Inkubationsgeschichte.
Was
soll da inkubiert haben? Eine Art Psychovirus? Könnte ja auch sein, dass unsere Probanden entführt wurden, dass sie Selbstmord begangen haben, dass unser Verfolger sie erwischt hat.«
    Ich schaute mich in der Bar um. Kein potenzieller Verfolger.
    »Es handelt sich um einen Mann, sagten Sie?«
    »Südländer.«
    »Hier hat’s praktisch nur sogenannte Südländer.«
    »Und Sie haben ihn wahrscheinlich angeschleppt. Sie kommen – er kommt, vorher hat sich drei Wochen lang niemand nach mir erkundigt.«
    »Vielleicht hat er es nur auf mich

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