P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
nicht lesen. Nur Katalysieren geht nicht.
Die ausgerotteten Elefäntchen gaben vielleicht einen Hinweis: Manetti hatte Mitleid mit den Schwachen. Er hatte vielleicht keine Meinung, aber Haltungen. Haltungen sind definitiv tiefer als Meinungen, da konnte man Margrit Limachers Andeutungen über Manettis »Tiefen« gut verstehen.
Marcel Lüthi zu finden, war kein Problem. Er stand im Telefonbuch, wohnte immer noch in einer der Eigentumswohnungen im Puls 5 und war bereit, mich abends um halb sechs im
Sphères
zu treffen. Seine Stimme klang allerdings leicht defensiv.
Im
Sphères
weiß ich nie, wo ich mich hinsetzen soll. Zum Glück war es trocken und warm, und ich setzte mich davor. Marcel Lüthi entsprach seinem Foto im
Magazin
.
»Lehmann«, sagte ich.
»Lüthi«, sagte er.
»Sie sind also nicht verschwunden«, begann ich.
»Wieso sollte ich verschwinden?«, fragte er mit brüskem Ton.
»Nun, Margrit Limacher ist verschwunden – und sie hat auch Manetti gelesen.«
»Davon weiß ich nichts.«
Er starrte mich lauernd an, als ob ich etwas wissen könnte, das ich nicht wissen sollte. Er wirkte gehetzt.
»Haben Sie Manetti gelesen?«, fragte er mich.
»Nein.«
»Das sollten Sie aber. Dann würden sie nicht solche Fragen stellen.«
Da war er wieder: der Manetti-Druck.
»Ich würde also nicht fragen, wieso Margrit Limacher verschwunden ist.«
»Nein, das würden Sie dann nicht fragen.«
»Aber Sie sind ja nicht verschwunden.«
Er lächelte angespannt. »Nein, ich bin noch da. Ich habe noch zu tun.«
»Sie haben noch zu tun.«
Marcel Lüthi nahm einen Schluck von seinem Espresso. Er blickte suchend um sich und fragte mich:
»Haben Sie sich schon gefragt, warum es so wichtig ist, in Mitteleuropa zu wohnen?«
»Nein, warum sollte ich?«
»Eben. Wir sind einfach da und nehmen an, dass das in Ordnung ist. Es könnte aber doch sein, dass wir hier zur falschen Zeit am falschen Ort sind.«
»Sie meinen, wir werden anderswo dringend gebraucht …«
»Das nicht. Wir könnten anderswo besser leben. Oder wir sind hier überflüssig. Oder wir sind hier eine Belastung, mit unserem ökologischen Fußabdruck, mit unseren 9000 Watt Energieverbrauch.«
»Ah, Sie meinen rein ökologisch.«
»Das war nur ein Beispiel. Vielleicht sind wir auch politisch am falschen Ort, oder sozial. Vielleicht hätten wir an andern Orten bessere Freunde. Die Welt ist groß, wir könnten überall leben.«
»Doch hier kennen wir uns aus. Wir wissen, wie wir Trambillette lösen können.«
(Das war noch, bevor die neuen Automaten installiert wurden.)
»Schon nach einem Monat in New York, Hongkong oder Bangkok ist uns alles genauso vertraut.«
Herr Lüthi forderte mich also dazu auf, meinen Wohnort zu hinterfragen: War ich in Zürich am richtigen Ort? Sollte ich nicht eher in Saint Louis leben, oder in Sydney, oder vielleicht in Spanien? Oder eben in Sur? Auch in Rom ist einem schnell alles vertraut. In London ist das Herumkommen mit der Oyster Card ein Kinderspiel. Sogar in Nigeria kommt man irgendwie durch. Aber vielleicht ging es um etwas ganz anderes.
»Nun gut, Herr Lüthi. Was genau hat denn Manetti in Ihnen ausgelöst?«
Marcel Lüthi liebte diese Frage nicht. Er schaute einem vorbeiratternden Cobra-Tram nach, und einer blonden Frau auf einem Herrenvelo.
»Ich kenne Sie nicht, Herr …«
»Lehmann.«
»Aber ich will Ihnen einen Hinweis geben. Wir sind daran, diesen Planeten zu ruinieren, ihn in einen durch und durch unangenehmen Ort zu verwandeln. Wir sind auch daran, mit unseren Mitmenschen kalt und grausam umzugehen. Wir haben Zwergelefanten, Dodos und Riesenkängurus ausgerottet. Und den tasmanischen Tiger. Wir haben versucht, uns gegenseitig auszurotten. Sind aber immer noch sieben Milliarden. Wir können zwischen zwanzig Sorten Joghurt wählen, haben aber keine Ahnung, was wir tun sollen. Was soll da Manetti?«
»Ich werde ihn lesen«, sagte ich mit fester Stimme.
»Genau. Und Sie werden nichts erfahren. Aber Sie werden eine zusätzliche Option haben.«
»Welche?«
»Das werden Sie sehen. Wenn Sie es sehen. Nicht alle, die Manetti lesen, sehen sie. Nicht alle können überhaupt lesen.«
Er kam fast außer Atem.
»Das heißt: Manetti lesen heißt lesen lernen.«
»Vielleicht.«
Mehr wollte oder konnte mir Herr Lüthi nicht sagen. Er brach abrupt auf und hastete davon. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er war ganz klar unter Druck. Ich hatte ganz vergessen, ihn zu fragen, was für Sachen er denn bearbeitete. Ich fragte
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