Poison (German Edition)
Pulli und ein paar Socken schnappe und die Stufen nach unten komme, wo ich mich gleich das nächste Mal ärgere, weil aus meiner Anlage Musik kommt, die ich jetzt absolut nicht brauchen kann ... Klaviermusik, »Für Elise«, und einmal abgesehen davon, dass ich mich absolut nicht daran erinnern kann, die entsprechende CD eingelegt zu haben, geschweige denn, meinen CD-Spieler überhaupt berührt zu haben.
Verdammt, diese Musik erinnert mich an meine Tante, und lässt mich nur noch mehr grübeln. Ich will das alles nicht ... weder das eine noch das andere. Weder ihn noch jemanden anderes. Oder doch ihn? Und dieser innere Zwiespalt, dieses unwissende, ziellose Verhalten, der mir einfach nur unerwünscht ist, aber den ich nicht abschütteln kann, so sehr ich es auch versuche ... Schwäche. Und nur die Starken überleben auf Dauer. Liebe macht also schwach, was ich soeben bewiesen bekomme. Vielen Dank auch, Condom-Boy. Hoffentlich gehts dir genauso beschissen wie mir!
»Oh, es geht ihm schlecht, Sonnenschein!«, antwortet eine lang vermisste, geliebte Stimme auf meinen ungesagten Wunsch, die ich seit langen Jahren nicht mehr gehört habe. Obwohl mir die Stimme sehr vertraut ist, stutze ich, zucke zusammen, drehe mich um und erblicke ... meine Tante. Und obwohl ich eigentlich gar nicht glauben kann, glauben möchte, was ich gerade sehe, ist es doch irgendwie logisch – das hat noch gefehlt in dem Sammelsurium der mystischen Begegnungen der letzten Zeit, dem ich unterworfen war ...
Jedenfalls an einer Stelle in meinem Loft, die sonst definitiv leer ist, steht nun ein schwarzer Steinway-Flügel, und meine tote Tante sitzt daran und spielt »Für Elise«, das Lied, »ihr« Lied, das sie in all den Jahren immer und immer wieder gespielt hat und das für mich untrennbar mit ihr verbunden ist. Sie spielt, und ich bin versucht, die Zeit in Gedanken zurückzudrehen zu dem Zeitpunkt, als ich noch jung und ohne Sorgen war, als mein Lächeln, mein bloßer Anblick anderen Menschen den Vergleich zu einem Sonnenstrahl näherbrachte ... daher der Name »Sonnenschein« ... und ich bewundere immer noch diese ihr typische Leichtigkeit, die mir nie gelungen ist, wie oft ich auch geübt, sie zu imitieren versucht habe. Oh, nein ...
»Du hast es zu sehr gewollt, Brix«, fährt meine Tante im Plauderton fort, aber ich spüre ziemlich deutlich, dass sie damit nicht so einverstanden ist, wie ich insgeheim gehofft hatte, während sie die letzten Töne von »Für Elise« verklingen lässt, mich anlächelt, so wie sie es immer getan hat, wenn sie mir etwas Offensichtliches erklärt hat, wie eine nachsichtige Mutter ihren Sohn anlächelt, bevor sie den Deckel über der Tastatur schließt und aufsteht, auf mich zu kommt, um den Flügel herum geht, so dass ich ihr weißes Gewand, das dem meiner »Engel« so ähnlich sieht, jetzt bewusst erkennen kann.
Okay, das ist ein weiterer Beweis dafür, dass es nur ein Traum ist, eine weitere Vision. Aber möchte ich jetzt nicht lieber zu ihr gehen und den Traum genießen, oder doch lieber aufwachen? Ich vermisse sie, wird mir schmerzhaft klar, als sie mir meine Entscheidung abnimmt, indem sie mir freundlich zuwinkt und ich ihrer Bewegung folge.
»Tante ... Aber warum? ...Weshalb? ... Wieso?«, stammele ich, während ich meiner Tante bewegungslos nachschaue, wie sie zu meiner Küche hinübergeht, Wasser kocht (was ich sehr selten oder eigentlich überhaupt nicht tue) und in ihrer Handtasche kramt, die sie natürlich mitgebracht hat, und aus der sie jetzt ein Päckchen grünen Tee zieht, die Sorte, die sie einst so geliebt hat.
»Um mit dir Tee zu trinken, natürlich«, antwortet sie auf mein Gestammel, und ich bin so perplex, dass mir erst ein paar Augenblicke später einfällt, dass ich eigentlich DAS nicht gemeint habe mit meinen Fragen. Und meine Tante? Sie winkt ab, als könne sie meine Gedanken lesen, und mustert mich genau, als sie »Weiß ich doch, aber wir können das gleich alles in Ruhe besprechen« zu mir sagt. »Jetzt zieh endlich den Pulli an und Strümpfe. Vielleicht ist es noch nicht zu spät für ...« Sie räuspert sich, gießt dann den dampfenden Tee in zwei Becher und zwinkert mir zu.
»Teezeit, Sonnenscheinchen.« Stimmt, ich halte den Pulli und die Socken immer noch in den Händen. Also ziehe ich mich an, ganz langsam.
»Trödel nicht herum, Brix. Ich werde sowieso nicht verschwinden wie die anderen. Ich habe mehr Geduld.«
Oh, verdammt, sie hat recht. Mir war zwar nicht bewusst,
Weitere Kostenlose Bücher