Poison (German Edition)
dass meine Trägheit einen Grund haben könnte, aber das könnte wirklich sein. »Entschuldigung«, nuschle ich, als ich zu ihr komme, einen Becher voll dampfenden Tee – Grüner mit Orangen und Limonen – entgegennehme und sie zu meiner Sitzgruppe begleite, wo ich mich in einen meiner Sessel setze und sie einfach nur anschaue, wie sie es sich auf meinem Sofa bequem macht. Und obwohl es eigentlich ein sehr ungewohntes Gefühl ist, ihr nach all den Jahren noch einmal zu begegnen, so empfinde ich es als äußerst schön und vor allem als so vertraut, als hätten wir erst vor ein paar Tagen hier zusammengesessen. Ihre pure Anwesenheit beruhigt mich und hilft mir vor allem, IHN zu vergessen. Der bloße Gedanke an IHN lässt meine Tante leise den Kopf schütteln. Ich bemerke es, weiche dem Gedanken, ihr Hiersein könnte etwas mit IHM zu tun haben, aber großflächig aus, frage statt dessen: »Wieso jetzt?« in den Raum und hoffe, dass meine Tante es mir beantwortet.
»Sonnenscheinchen«, meine Tante sieht fast verzweifelt aus, »Ich konnte nicht mehr länger zusehen, wie du dich zugrunde richtest. Du flüchtest vor den Schutzgeistern, anstelle zuzuhören, was sie dir zu sagen haben, und du flüchtest dich vor dir selbst, anstelle auszuruhen, zu schlafen und dich zu pflegen.«
Schutzgeister?
»Ja, die Engel, wie ich sie genannt habe ... oder der Fluch, wie du zu sagen pflegst. Sie sind doch keine Wesen, vor denen du Angst haben musst, sondern sie beschützen dich und helfen dir. Natürlich hat das Wort »Geist« für einen Zehnjährigen eine ganz andere Wirkung als für einen erwachsenen Mann wie dich, deshalb habe ich sie Engel genannt, aber das sind sie eigentlich nicht, sondern viel mehr.« Sie winkt ab. »Aber jetzt ist Schluss mit diesem Unsinn. Ich bin hierher gekommen, weil es Wichtigeres gibt, über das ich mit dir reden muss.«
Sie führt ihre Tasse zum Mund, trinkt einen Schluck Tee, stellt die Tasse anschließend wieder auf den Couchtisch und schaut mich ernst an. »Sonnenscheinchen, du weißt, dass ich dich immer geliebt habe.« Ich nicke, fast panisch, denn ich ahne, dass sie sich Sorgen macht. Um was, ist mir nicht klar, denn es ist doch alles okay. Na ja, fast alles.
»Nichts ist okay, Brix. Du hast hart gearbeitet, einen guten Job, Geld, ein bisschen Luxus, ein schönes und angenehmes Leben. Aber die Dinge, die ich dir eigentlich vermitteln wollte, die Werte, die wirklich wichtig sind, um sein Leben zu meistern, die hast du vergessen.«
Aha. Von wegen. Na ja, wenn du meinst. Innerlich zucke ich mit den Schultern, denn ich kann sie nicht verstehen.
»Du willst mich nicht verstehen, Brix«, fährt sie voller Verzweiflung fort. »Schau doch mal in den Spiegel, ja, sieh dich an! Weißt du nicht mehr, weshalb ich dich »Sonnenschein« genannt habe? Wie konnte es nur passieren, dass das Strahlen in deinen Augen verloschen ist? Brix, du hast das Wichtigste auf dieser Welt vergessen!« – »Nein!«, widerspreche ich ihr reflexartig, und erschrecke über den harten Klang meiner eigenen Stimme. Sie ist kalt und schneidend.
»Ich wusste immer, dass du mich liebst!!!« Meine Stimme ist zu laut, klingt, als hätte sie mich zu sehr verletzt mit ihren Worten ... und der Wahrheit, die sie mir gerade um die Ohren schlägt.
»Aber, Brix«, fragt meine Tante mich mit verzweifeltem Blick. »Warum lässt du es dann von keinem anderen Menschen zu? Ich weiß, dass ich viel zu früh von dir gehen musste, aber das ist doch kein Grund!!! Oder deine Angst, deretwegen du jegliches Gefühl so konsequent unterdrückst – sie ist auch kein Grund!!! Begreifst du denn nicht, dass du gegen dich selbst kämpfst???«
Ich kämpfe für meine Kontrolle, geliebte Tante. Dass das einfach ist, hat niemand behauptet. Aber jeder Kampf ist auch irgendwo ein Krieg, Tanti. Und Kriege bedeuten Opfer. Sicher, wenn heute noch einmal vorgestern wäre, ich würde mich zu Hause vor dem Fernseher verkriechen und die Wohnung auf gar keinen Fall verlassen, und garantiert nicht in den »Turm« gehen.
»Nein, vergiss die Kontrolle. Sie steht deinem Glück im Weg. Es wird Zeit, loszulassen, Brix. Vertraue der Liebe, erkenne ihren Weg, begreife, dass sie dich nicht schwächt, sondern starkmacht.« Meine Tante lächelt mich an, hat meine Linke in ihre Hände genommen, streicht mir über meine Hand.
»Wie kommst du nur darauf, dass es nicht so sein könnte??? Dieser Irrglaube hat dich bereits in deinem letzten Leben deine große Liebe gekostet. Liebe
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