Poison (German Edition)
Möbelstücken und zur Realität.
Als ich meine Augen endgültig öffne, ist es hell draußen, und Marianne steht im Zimmer.
»Was machst du denn für Sachen?«, fragt sie mich, und ihre Finger streicheln meine Schläfe.
Ich versuche zu lächeln, aber es misslingt mir, dank meiner geschwollenen Lippe wird aus einem Lächeln eine schiefe Grimasse. »Kannst du aufstehen?«
Ich schweige, zucke mit den Schultern, denn ich weiß es nicht. Marianne hilft mir, und als ich an mir heruntersehe, stecke ich in völlig anderen Klamotten. Brix hat mir anscheinend das blutverschmierte Hemd ausgezogen, in dem ich steckte, und mir einen seiner bequemen, mir zu weiten Pullover und eine Fleece-Trainingshose angezogen. Zusammen mit Marianne gehe ich ins Bad, schaue mich im Spiegel an, erschrecke. Das Veilchen auf meinem linken Auge schimmert grün und blau, meine Oberlippe ist geschwollen, auf dem linken Schulterblatt habe ich einen blauen Fleck, der bis zum Schlüsselbein reicht, mein rechtes Jochbein ist geschwollen, meine Oberarme sind auch mit blauen Flecken verziert, und ich fühle mich bei meinem Anblick eher an einen Maler erinnert, der überall Farbreste kleben hat ... gut, dass ich im Bett gelegen habe. Jetzt allerdings erinnert meine Blase mich daran, dass ich noch am Leben bin, weswegen ich ihrem Ruf folge. Dann hilft Marianne mir zum Wagen, deckt mich auf dem zurückgekippten Beifahrersitz mit einer Wolldecke zu und schließt den Kofferraum, in dem unsere Habseligkeiten verstaut sind, wie mir ein kurzer Blick darauf beweist. Kaum liege ich allerdings im Auto fallen meine Augen wieder zu, und das Schmerzmittel fordert seinen Tribut.
96
Brix
Zum Glück haben wir noch keine Bahnfahrkarte gekauft. Fünfzehn Euro pro Person für Umtausch oder Rückgabe ... wie gesagt, zum Glück bleibt uns dies erspart. So schlecht, wie Shahin drauf ist, würde ich ihm nämlich die Zugfahrt nicht zumuten. Also hab ich Marianne angerufen, um ihr die Fahrt zum Bahnhof Zoo, die sie uns angeboten hat, abzusagen. Als ich ihr erzählt habe, was passiert ist, hat sie sich sofort auf den Weg gemacht, aber nicht, um uns zum Bahnhof zu fahren, sondern weil sie sich wirklich Sorgen gemacht hat. Ich beruhige sie, aber sie besteht darauf, uns nach Frankfurt zu fahren, anstelle mich – wie ich es eigentlich geplant hatte, das Zimmer noch eine Woche länger buchen zu lassen.
»Für den Preis kann ich euch dreimal fahren«, sagt sie, und vermutlich hat sie recht. Zweihundert Euro pro Nacht sind vierzehnhundert Euro für die Woche. Marianne fährt für fünfhundert, als Spritkostenersatz. Den Rest der Tour schenkt sie uns, weil sie von Freunden kein Geld nimmt, und das sei ja wohl ein Notfall.
Also packen wir gemeinsam Shahins Sachen, meine sind ja längst in meinem Koffer und bringen sie zum Taxi. Marianne weckt Shahin, bringt ihn zum Taxi, macht ihm da ein bequemes Plätzchen zurecht, während ich aus dem Hotel auschecke und wir schon eine halbe Stunde später auf der Autobahn sind ... raus aus Berlin, der Stadt, in der ich die letzten 18 Jahre meines Lebens verbracht habe, acht davon in dem Internat am Wannsee, in dem meine Tante mich untergebracht hatte, weit weg von meinen missgünstigen Verwandten, von denen ich seit dem Tod meiner Tante nie wieder etwas gehört hatte.
Geboren bin ich laut Personalausweis in Oldenburg in Niedersachsen, aber ich habe an diese Stadt oder an meine Eltern so gut wie keine Erinnerung mehr. Ein dunkler Schemen über einem Bett mit gelbem Bezug ist alles, was mir von meiner Mutter bleibt, die ich bewusst nur auf Bildern gesehen habe, genauso wie meinen Vater. Meine Kindheitserinnerungen stammen alle aus dem Haus meiner Tante in Hannover, bei der ich nach dem frühen Unfalltod meiner Eltern aufgewachsen bin, und die ich als Teil meiner Heimat betrachte. Habe ich eine Heimat? Berlin ist die Stadt, mit der mich am meisten verbindet, materiell wie emotional. Die Erinnerungen an Hannover verblassten mit der Zeit, wurden zweidimensional wie ein Bild oder ein Film, den man anschaut, während meine Zeit im Internat und meine erste Wohnung danach bleibende Erinnerungen erzeugten. Mein Loft dagegen führt, im Nachhinein betrachtet, Abscheu mit sich, symbolisiert es doch für mich einen gewissen Stil, der aber gepaart mit Emotionslosigkeit und schlechten Gedanken über kurz oder lang in mein Verderben geführt hätte. Nein, der Grund, warum ich so schweigsam bin, ist offensichtlich ein anderer. Es ist diese Melancholie, die
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