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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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dem Leichnam heraus, schnellte in die Luft empor und landete vor Wainus Füßen. Der Arzt stach zu, doch das Skalpell zerbrach auf den Bodenplanken. Er versetzte dem Aal einen Fußtritt und griff hastig nach einem anderen Messer. Wild um sich schlagend, wand sich der Aal durch den Raum. Sein stärkster Schutz war eine klebrige, durchsichtige Flüssigkeit, die ihn jedem Zugriff entzog. Ein einziger Aal konnte einen ganzen Eimer voll Schleim abgeben; ein weidender Aal konnte seine Beute mit einem Schleimkokon überziehen, den nicht einmal ein Hai anrühren mochte. Wieder brach die Spitze des Messers ab, flog in hohem Bogen durch den Raum und ritzte in Wainus Wange. Er stolperte, schlug der Länge nach auf den Rücken und beobachtete entsetzt, wie der Aal sich auf ihn zuschlängelte.
    Arkadi rannte auf den Gang hinaus und kam mit einer Brandaxt zurück, die er, mit dem stumpfen Ende nach unten, auf den Aal niedersausen ließ. Bei jedem Hieb schlug der Aal wie wild um sich und besudelte den Fußboden. Arkadi verlor auf dem Schleim das Gleichgewicht, fing sich jedoch gleich wieder, drehte die Axt mit der Schneide nach unten und hackte den Aal in der Mitte durch. Doch die beiden Hälften zappelten jede für sich weiter, bis er auch sie noch einmal zerhackt hatte. Dann zuckten die vier zertrennten Stücke hilflos in Lachen aus Schleim und Blut.
    Wainu stolperte zum Laborschrank, riß die Instrumente aus einem Sterilisationsbehälter, goß den Alkohol in zwei Gläser und reichte eins davon Arkadi. Slawa Bukowski war verschwunden. Arkadi erinnerte sich vage, daß er gesehen hatte, wie der Dritte Maat, gleich nachdem der Aal aufgetaucht war, zur Tür gestürtzt war.
    »Das ist meine letzte Reise«, sagte Wainu grimmig.
    »Wieso ist niemandem aufgefallen, daß sie bei der Arbeit fehlte?« fragte Arkadi. »War sie oft krank?«
    »Sina?« Wainu hielt sein Glas mit beiden Händen umklammert. »Die doch nicht.«
    Arkadi hatte den Alkohol in einem Zug hinuntergeschüttet. Das Zeug schmeckte ein bißchen antiseptisch, aber eigentlich nicht übel. Was für Ärzte, überlegte er, arbeiten normalerweise auf Fabrikschiffen? Bestimmt nicht solche, die wißbegierig das ganze Spektrum körperlicher Funktionsstörungen nebst Entbindungen, Kinderkrankheiten und Geriatrie abdecken wollen. Auf der Polar Star bestand nicht einmal das übliche Seefahrtsrisiko von Tropenkrankheiten. Für einen Mediziner war der Dienst im Nordpazifik ziemlich langweilig, weshalb die Schiffsärzte in diesen Gewässern entweder Trunkenbolde waren oder frisch Approbierte, die man zwangsverpflichtet hatte. Wainu gehörte in keine dieser beiden Kategorien. Er stammte aus Estland, einer baltischen Republik, in der man die Russen immer noch wie Besatzungstruppen behandelte. Ein Mann wie er hatte gewiß nicht viel Sympathie für die Mannschaft der Polar Star.
    »Sie war also nie krank? Nicht einmal Schwindelanfälle, Kopfschmerzen, Übelkeit? Kein Drogenproblem? Haben Sie das Mädchen denn nie wegen irgendwas behandelt?«
    »Sie haben doch ihre Akte gesehen. Die Frau war absolut sauber.«
    »Wie kommt es dann, daß keiner sich über das Verschwinden dieser so tüchtigen Arbeitskraft gewundert hat?«
    »Renko, ich habe den Eindruck, Sie sind der einzige Mann an Bord, der Sina nicht gekannt hat.«
    Arkadi nickte. Allmählich kam ihm das auch so vor.
    »Vergessen Sie Ihre Axt nicht«, sagte Wainu, als Arkadi zur Tür ging.
    »Ich möchte Sie bitten festzustellen, ob das Mädchen kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte. Nehmen Sie auch ihre Fingerabdrücke und eine Blutprobe, damit man die Blutgruppe bestimmen kann. Und ich fürchte, Sie werden den Unterleib ausräumen müssen.«
    »Was ist, wenn …« Der Arzt deutete auf den zerstückelten Aal.
    »Ach ja, richtig«, sagte Arkadi. »Behalten Sie die Axt.«
     
    Slawa Bukowski stand draußen über die Reling gebeugt. Arkadi trat neben ihn, als wolle er frische Luft schnappen. Auf dem Trawldeck türmten sich haufenweise gelbe Seezungen, die darauf warteten, durch den Schacht in die Fabrik hinuntergeschaufelt zu werden. Ein amerikanisches Nylonnetz war zwischen zwei Masten gespannt, und eine Netznadel - ein Schiffchen mit gespaltener Spitze - hing in einem Riß, der noch nicht fertig geflickt war. Arkadi fragte sich, ob es das Netz war, das Sina heraufgebracht hatte. Slawa beobachtete das Meer.
    Bisweilen legte sich der Nebel wie ein Ölfilm auf die Wasseroberfläche. Es herrschte Flaute, unbeweglich und schwarz dehnte sich

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