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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Jagger hätte gegen sie erst recht keine Chance gehabt. Sie war eine Kugelstoßerin mit einem Herzen wie Carmen.
    »Sina war ein braves Mädchen, sehr beliebt, sie brachte Leben aufs Schiff«, sagte Madame Malsewa und saß da, als hielte sie Soiree in einem Salon, trug einen quastengeschmückten Schal um die Schultern und stopfte ein Satinkissen, auf dem über aufgestickten Wellen die Einladung prangte: Besuchen Sie Odessa. »Wo immer es was zu lachen gab, war unsere Sina dabei.«
    »Sina war so lieb zu mir«, sagte Dynka. »Wie oft ist sie zu mir in die Wäscherei gekommen und hat mir ein >Sandwiss< gebracht.«
    Wie die meisten Usbeken konnte sie das »tsch« nicht aussprechen; sie ließ es einfach unter den Tisch fallen.
    »Sie war eine aufrechte Arbeiterin der Sowjetunion und wird uns allen sehr fehlen.« Natascha war Parteigenossin und hatte als solche die Begabung, wie eine Tonbandaufnahme zu klingen.
    »Ihre Aussagen sind sehr wertvoll für uns«, sagte Slawa.
    Eine der beiden oberen Kojen war abgezogen. In einem Pappkarton, genormt für dreißig Kilo Fisch, lagen Kleider, Schuhe, ein Stereorecorder, Kassetten, Lockenwickler und Bürsten, ein graues Notizbuch, ein Schnappschuß von Sina im Badeanzug, ein anderer von ihr und Dynka und ein indonesischer Schmuckkasten, bezogen mit buntem Stoff und mit Spiegelscherben beklebt. Über der Koje war eine Tafel im Schott verschraubt, die den Posten der Besitzerin in einem Notfall anzeigte. Sinas Platz wäre bei den Feuerlöschern in der Küche gewesen.
    Arkadi hätte auf Anhieb sagen können, wem die anderen Kojen gehörten. Eine ältere Frau hatte traditionsgemäß Anspruch auf eine untere; Madame Malsewas war mit Kissen aus verschiedenen Häfen bestückt - Sotschi, Tripolis, Tanger -, so daß sie wie auf einem weichen Atlas ruhen konnte. Nataschas Koje schmückte eine Auswahl von Faltblättern wie »Aufklärung über die Folgen sozialdemokratischen Abweichlertums« und »Der sichere Weg zu einem reinen Teint«. Vielleicht führte eins zum anderen; das wäre ein wirklicher Durchbruch für die Leute vom Propagandaministerium. Auf Dynas oberer Koje thronte ein Spielzeugkamel. Mit mehr Gespür für ihre Umgebung, als Männer es besaßen, hatten diese Frauen aus ihrer Kabine ein richtiges Zuhause gemacht, Arkadi kam sich vor wie ein Eindringling.
    »Was uns beschäftigt«, sagte er, »ist die Frage, wieso niemand Sinas Verschwinden bemerkt hat. Sie haben die Kabine mit ihr geteilt. Wieso ist Ihnen nicht aufgefallen, daß sie einen Tag und eine ganze Nacht lang weg blieb?«
    »Ach, sie war so ein unternehmungslustiges Mädchen«, sagte die Malsewa, »und dann hatte sie ja auch eine andere Schicht als wir. Sie wissen doch, Arkascha, wir arbeiten nachts. Sie dagegen hatte tagsüber Dienst. Manchmal haben wir Sina tagelang nicht angetroffen. Ich kann es gar nicht fassen, daß wir sie nie wiedersehen werden.«
    »Ich kann mir gut vorstellen, wie nahe Ihnen das geht.« Arkadi hatte Madame Malsewa bei einigen Kriegsfilmen weinen sehen, auch als Deutsche erschossen wurden. Während die übrigen Zuschauer grölten: »Macht sie fertig, die Schweine!«, hatte die Malsewa in ihre Babuschka geschluchzt.
    »Sie hat sich meine Duschhaube ausgeliehen, und ich hab sie nie zurückbekommen.« Die alte Frau sah aus trockenen Augen zu ihm auf.
    »Wir sollten auch von den anderen Genossinnen Auskünfte einholen«, schlug Slawa vor.
    »Hatte Sina Feinde?« fragte Arkadi. »Wüßten Sie jemanden, der ihr übel gesinnt war?«
    »Nein!« riefen die drei Frauen im Chor.
    »Für eine solche Frage besteht kein Anlaß«, warnte Slawa.
    »Schön, streichen wir das. Und was hat Sina sonst noch gehört?« Arkadis Blick glitt forschend über die Fotomontage auf der Schranktür.
    »Das da ist ihr Neffe.« Dynkas Finger deutete zaghaft auf einen Schnappschuß von einem dunkelhaarigen Jungen, der eine Weintraube mit Beeren so groß wie Feigen vor die Kamera hielt.
    »Und das ist ihre Lieblingsschauspielerin.« Natascha zeigte auf ein Bild von Melina Mercouri mit Schmollmund, aus dem sich Zigarettenrauch kräuselte. Hatte Sina sich etwa als temperamentvolle Griechin gesehen?
    »Hatte sie einen Freund?« fragte Arkadi.
    Die Frauen sahen einander wie ratsuchend an. Schließlich antwortete Natascha: »Soweit wir wissen, gab es da niemand Spezielles.«
    »Keinen einzelnen Mann«, ergänzte die Malsewa.
    Dynka kicherte. »Nein, wahrhaftig nicht.«
    »Am besten fährt immer der, der sich mit allen Genossen

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