Polargebiete: Tierparadiese unserer Erde
auf den Beinen, dass sie jedem Menschen davonlaufen können. Mit sechs Tagen schaffen sie schon 15 km am Tag, so dass ihre Mütter die Wanderung wieder aufnehmen können. Ende Juni schließen sich die restlichen Kühe, Jährlinge und jungen Bullen, die die Wintergründe erst später verlassen haben, den Müttern und ihren Kälbern an und bilden große Züge von oft über 100 000 Tieren, die gemeinsam zu den Sommerweidegründen wandern und bis August zusammenbleiben.
Auf der Flucht vor gefährlichen Plagegeistern
Diese Zusammenballung bietet vermutlich einen gewissen Schutz vor den riesigen Schwärmen von Stechmücken und Dasselfliegen. Während des Höhepunkts der Insektenplage nehmen die Karibus ab, da sie nur noch ein Drittel ihrer Tage mit Äsen und Wiederkäuen verbringen können, und fallen vermehrt Raubtieren zum Opfer. Am liebsten halten sie sich nun auf Höhenzügen auf, deren kalte Luft die Insekten meiden. Die überaus unangenehmen Angriffe von Dasselfliegen und Hautdasseln können ganze Herden in Panik versetzen; erst der herbstliche Kälteeinbruch macht der Plage ein Ende. Ab Mitte September haben die Karibus dann endlich wieder mehr Zeit zum Fressen und verlieren nicht mehr so viel Energie durch die ständige Flucht. Mit saftigen Gräsern, nahrhaften Pilzen und Beeren fressen sie sich nun eine Fettschicht für den Winter an.
Anstrengende Brunftzeit
Die ersten schweren Schneefälle des Herbstes sind das Signal zum Aufbruch gen Süden. In großen Gruppen ziehen die Tiere jetzt zu den Brunftplätzen, an denen die erwachsenen Männchen ab Mitte Oktober um das Recht kämpfen, möglichst viele Kühe zu begatten. Seit Monaten haben sie sich in Scheinkämpfen geübt und ihr nun über 1,5 m langes Geweih gefegt, also den Bast, der es während des Wachstums überzog, an Büschen abgerieben und dabei auch ihre Halsmuskeln gestärkt. Der Hals ist fast doppelt so dick wie sonst, das Körpergewicht um 20 % gestiegen: Große Bullen wiegen nun bis zu 315 kg.
Wenn rein symbolisches Kräftemessen durch breitbeiniges Kopfneigen nicht zu einem Ergebnis führt, lassen zwei Bullen ihre Geweihe mit voller Wucht aufeinanderprallen und schieben und stoßen sich mit verkeilten Waffen hin und her; dabei kommt es oft zu schweren, mitunter auch tödlichen Verletzungen. Zwei Wochen lang bleiben die Bullen in ständiger Erregung, sie fressen und ruhen nicht und zehren ihre Reserven auf. Am Ende der Brunftzeit, im November, hat ein starkes Tier im Schnitt zwölf Kühe begattet; viele erschöpfte Bullen überleben den anstehenden Winter nicht. Die Männchen werfen nach der Paarungszeit ihr Geweih ab; im Mai wächst ein neues. Die Weibchen haben ihre Geweihe erst im Juli bekommen und behalten sie bis zur Geburt ihrer nächsten Kälber. So können sie Futterlöcher, die sie in den Schnee scharren, gegen Männchen und nicht trächtige Kühe verteidigen.
Überleben im Schnee
Jedes Jahr verbringen die George-River-Karibus 70 % ihrer Zeit im Schnee. An den Füßen schrumpfen die Ballen und die Haupthufe und Afterklauen werden so lang, dass die fleischigen Sohlen vor dem Kontakt mit dem eisigen Boden geschützt sind.
Die Winternahrung besteht vor allem aus Flechten, die zwar nahrhaft, calciumreich und gut verdaulich sind, aber wenig Proteine enthalten. Ein Teil des Calciums wird bei den Weibchen als Vorrat im Geweih eingelagert, ein Teil in die Knochen des heranreifenden Embryos eingebaut, damit das Kalb nach der Geburt rasch auf die Beine kommt, und ein Teil mit dem Kot ausgeschieden. Am häufigsten wird die weiße oder graugrüne Rentierflechte
Cladonia rangiferina
gefressen, deren 5 cm hohe, lederartige Zweige die Tiere noch unter 60 cm Schnee wittern und ausgraben. Ende Dezember legen Karibus im Wald nur noch 5 km am Tag zurück; um mit der kargen Nahrung auszukommen, stellen sie ihr Wachstum ein und reduzieren ihren Grundumsatz um 25 %. Die Jungtiere verlieren 10 % ihres Körpergewichts, obwohl ihre Mütter mehr als zwölf Stunden am Tag mit dem Scharren von über 100 Futterlöchern verbringen.
In sehr harten Wintern ziehen Teile der George-River-Herde in die Nähe menschlicher Siedlungen; dann sind sie mit Motorschlitten und modernen Schusswaffen besonders leicht zu jagen und zu erlegen. Neben dem Fett und den mageren Steaks gelten auch die anverdauten und daher für Menschen genießbaren Flechten im Magen mancherorts als Delikatesse. Aus den Geweihen werden Angelhaken, aus den Schienbeinknochen Messer, aus den Sehnen starke
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