Polarsturm
er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht sofort wieder aufzutauchen, sondern die leblosen Gliedmaßen zu bewegen. Allmählich aber überwand er den Schock und zwang sich zu schwimmen.
Er hatte keine Taschenlampe, doch in dem schwarzen Wasser brauchte er auch keine. Er legte die Hand an den Rumpf des einen Zodiacs und stieß sich mit kräftigen Beinschlägen nach unten, bis er spürte, wie sich der Schwimmkörper nach innen, zum Bug hin krümmte. Er tastete umher, bis er auf die straff gespannte Leine stieß, ergriff sie mit der freien Hand, zog sich an ihr hinab und suchte nach der Stelle, an der beide Zodiacs festgezurrt waren.
Das eisige Wasser lähmte ihn regelrecht, und wieder musste er sich zwingen, noch tiefer zu gehen. Rund fünf Meter unterhalb des Bugs strich seine Hand über eine Klampe am Deck des Leichters, um die die Leinen beider Boote geschlungen waren. Sofort nahm er sich die erste mit dem Messer vor und sägte wie wild daran herum. Doch die Klinge war nicht scharf, sodass er mehrere Sekunden brauchte, bis er sie durchgeschnitten hatte, worauf sie ihm aus der Hand gerissen wurde, als das Zodiac nach oben schoss. Seine Lunge schmerzte vom Luftanhalten, als er die zweite Leine ergriff, während sein ganzer Körper taub wurde und ihm signalisierte, dass er aufgeben sollte. Doch er war jetzt wild entschlossen, dachte nicht daran, klein beizugeben, und säbelte mit aller Kraft, die ihm noch blieb, an der Leine herum.
Sie riss mit einem Surren, das selbst unter Wasser zu hören war, dann schoss auch das zweite Zodiac nach oben, flog in flachem Bogen durch die Luft und landete mit einem lauten Aufklatschen auf dem harten Kiel. Dahlgren bekam davon nicht viel mit, da ihm die Leine schon nach ein, zwei Metern entglitt, doch der Schwung, den er dabei bekam, trieb ihn nach oben, wo er keuchend auftauchte, mit Armen und Beinen um sich schlug, um sich mit seinen steifen Gliedmaßen über Wasser zu halten.
Das Beiboot war augenblicklich bei ihm, worauf ihn drei Armpaare ergriffen und an Bord hievten. Er wurde mit einer alten Decke trocken gerubbelt, dann zog man ihm mehrere Hemden und lange Unterwäsche an, die seine Bordkameraden an ihn abtraten. Als man ihm seinen Parka überstreifte und die Stiefel über seine Füße stülpte, schaute er Stenseth mit weit aufgerissenen Augen an, während er am ganzen Körper zitterte.
»Das ist vielleicht ein kalter Weiher«, stieß er aus. »So was mach ich nicht noch mal.«
Stenseth verlor keine Zeit. Er steuerte das Beiboot zu den Zodiacs, bis man die Bugleinen zu fassen bekam, dann jagte er den Motor hoch und schleppte die Schlauchboote zu dem immer schneller im Wasser versinkenden Bug. Mittlerweile schwappten die Wellen auch über den Lukendeckel von Frachtraum Nummer 1, doch das große Schiff ging noch immer nicht unter.
Die Gefangenen, die sich auf dem Vorschiff drängten, waren unterdessen davon überzeugt, dass die Männer im Beiboot sie dem sicheren Tod überlassen hätten. Doch als der Außenbordmotor plötzlich lauter wurde, spähten sie wieder voller Hoffnung in die Dunkelheit. Im nächsten Augenblick tauchte das Skiff mit den beiden leeren Zodiacs im Schlepptau auf. Ein paar Männer fingen an zu johlen, dann fielen andere ein, bis auf dem ganzen Leichter laute Jubelrufe ertönten.
Stenseth steuerte das Boot zum Vorschiff und nahm das Gas weg, sobald die beiden Zodiacs längsseits lagen. Als die ausgemergelten Männer in aller Eile einstiegen, trat Murdock zum Beiboot.
»Gott segne Sie«, sagte er an die ganze Besatzung gewandt.
»Sie können sich bei dem verfrorenen Texaner bedanken, sobald er nicht mehr zittert«, sagte Stenseth. »Aber unterdessen sollten wir zusehen, dass wir schleunigst von diesem Riesenkahn wegkommen, bevor er uns alle mit in die Tiefe zieht.«
Murdock nickte und stieg in eins der Zodiacs. Die Schlauchboote waren im Nu voll und wurden sofort vom Leichter abgestoßen. Da sie keine Paddel hatten und die Motoren abgesoffen waren, mussten sie vom Beiboot gezogen werden, daher warf ein Besatzungsmitglied der
Narwhal
den Männern im ersten Boot eine Leine zu, woraufhin auch das zweite in Schlepptau genommen wurde.
Die drei Boote trieben ein Stück vom Leichter weg, bevor Stenseth den Außenbordmotor anwarf, dann fuhren sie in Richtung Osten und ließen das dem Untergang geweihte Schiff im Nebel hinter sich. Nahezu lautlos, nur mit einem leichten Gurgeln versank der schwarze Gigant, dessen Frachträume inzwischen bis obenhin
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