Polarsturm
eine halbe Ewigkeit vor, bis sich das Küstenwachboot allmählich wieder aufrichtete und von der Bordwand des Handelsschiffes entfernte. Doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Ohne dass es die Besatzung wusste, war bei dem Zusammenprall das Ruder abgerissen, und da die Schraube auf vollen Touren lief, hielt das Patrouillenboot nun geradewegs auf das nahe Packeis zu. Die
Harp
bohrte sich mehrere Meter tief in das dicke Eis, dann wurde sie mit einem Mal so jäh gestoppt, dass es die Besatzung nach vorn schleuderte.
Weber, der auf der Brücke zu Boden gegangen war, stand auf, half, die Maschine abzustellen, und versuchte dann, rasch den Zustand von Schiff und Besatzung einzuschätzen. Die Männer waren mit etlichen Schrammen und Blutergüssen davongekommen, stellte er fest, aber um das Patrouillenboot war es weit weniger gut bestellt. Neben dem verlorenen Ruder war auch der Bug eingedrückt und der Außenrumpf beschädigt. Mindestens vier Tage musste die
Harp
im Eis liegen bleiben, bis ein Schlepper eintraf, der sie zur Reparatur in den Hafen bringen konnte.
Weber wischte einen Blutfaden weg, der aus einem Riss an seiner Wange rann, trat auf die Brückennock und blickte gen Westen. Einen Moment lang sah er noch die Positionslichter des Handelsschiffes, dann verschwand der große Frachter in einer düsteren Nebelbank, die sich über den Horizont erstreckte. Kopfschüttelnd blickte Weber hinter dem Schiff her.
»Du unverschämter Mistkerl«, murmelte er. »Dafür wirst du büßen.«
Webers Worte sollten sich als müßig erweisen. Eine rasch aufziehende Sturmfront südlich der Baffininsel verhinderte den Start einer Aufklärungsmaschine vom Typ CP-140 Aurora des Canadian Air Command, die von der Küstenwache angefordert worden war. Als das Flugzeug schließlich von seinem Stützpunkt in Greenwood, Nova Scotia, aufsteigen konnte und über dem Lancastersund eintraf, waren mehr als sechs Stunden verstrichen. Weiter westlich, auf Höhe der Prince-of-Wales-Insel, blockierte ein anderer Kutter der Küstenwache die Passage und wartete auf den aggressiven Frachter. Doch das große schwarze Schiff tauchte nicht auf.
Drei Tage lang suchten die kanadische Küstenwache wie auch die Luftwaffe sämtliche Seewege rund um den Lancastersund nach dem fremden Schiff ab. Jeder Schifffahrtsweg in Richtung Westen wurde mehrmals erkundet. Doch das amerikanische Handelsschiff war nirgendwo zu sehen. Verwirrt brachen die kanadischen Streitkräfte die Suche ab, während Weber und seine Besatzung sich fragten, wie der Frachter einfach im arktischen Eis hatte verschwinden können.
23
Dr. Kevin Bue blickte in den dunkler werdenden Himmel im Westen und verzog das Gesicht. Noch vor einer Stunde hatte die Sonne geschienen, kein Windzug hatte sich geregt, und das Quecksilber im Thermometer stand bei sechs Grad minus. Aber dann war das Barometer mit einem Mal gefallen, und gleichzeitig war ein scharfer Westwind aufgekommen. Rund vierhundert Meter entfernt brandete jetzt das graue, kabbelige Wasser des Nordpolarmeers an die schartige Kante des Packeises und brach sich in hoch aufspritzenden Gischtwolken.
Er zog die Kapuze seines Parkas fester, wandte sich vom beißenden Wind ab und betrachtete die Unterkunft, in der er sich seit ein paar Wochen aufhielt. Das Eisforschungslabor Nr. 7 würde im Reiseführer nicht allzu viele Sterne für Luxus und Komfort bekommen. Das Camp bestand aus einem halben Dutzend Fertigbauten, die mit gen Süden gerichteten Eingängen im Halbkreis dicht nebeneinander standen. Auf der einen Seite lagen sich die drei Schlafquartiere, daneben der größte Bau, in dem sich die Kombüse, die Messe und der Gemeinschaftsraum befanden. Das gedrungene Gebäude genau gegenüber beherbergte ein Labor und den Funkraum, und daneben stand ein mit Schnee bedeckter Lagerschuppen.
Das Forschungslabor war eins von mehreren Eiscamps, die das kanadische Ministerium für Fischereiwesen und Meereskunde eingerichtet hatte, um die Drift des arktischen Packeises zu verfolgen und zu untersuchen. Eisforschungslabor 7 war vor einem Jahr aufgebaut worden, hatte sich unterdessen fast zweihundert Meilen weiterbewegt und wanderte auf einem mächtigen Panzer aus Polareis in südlicher Richtung durch die Beaufortsee. Mittlerweile war das Camp, das am Rande des Schelfeises stand, nurmehr hundertfünfzig Meilen von der nordamerikanischen Küste und dem kanadischen Yukon-Territorium entfernt. Allerdings war dem Lager nur noch ein kurzes Leben beschieden, denn
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