Polarsturm
Kai entlangschwimmen, als ich das Boot gehört habe. Eigentlich wollte ich mich unter der Gangway im Wasser verstecken, als der Wachmann an Land ging. Mir war nicht mal klar, dass du das warst, bis ich Summers Stimme hörte, kurz nachdem du über Bord gegangen warst. Du bist unmittelbar vor mir im Wasser gelandet. Als du dich nicht bewegt hast, habe ich dir sofort meinen Atemregler in den Mund gerammt. Unter Wasser zu bleiben, bis wir außer Sicht waren, ist das Schwerste dabei gewesen.«
»Öffentlich Bedienstete, die unbefugt Privatgrund betreten, sollten sich was schämen«, sagte Summer grinsend.
»Das ist nur eure Schuld«, erwiderte Trevor. »Ihr habt ständig davon geredet, wie wichtig diese Wasserproben sind, daher dachte ich, wir müssten rausfinden, ob irgendeine Verbindung zu der Anlage besteht.« Er reichte Summer einen Taucherbeutel, der etliche Reagenzgläser mit Wasser enthielt.
»Hoffentlich decken die sich mit meinen«, erwiderte Summer und zeigte ihm ihre Proben. »Ich kann sie natürlich erst untersuchen, wenn wir unser Boot wiederhaben.«
»Millers Taxiservice hat immer geöffnet. Ich habe zwar morgen früh eine Bergwerksbesichtigung, kann euch aber nachmittags hinbringen.«
»Das wäre großartig. Danke, Trevor. Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal etwas enger zusammenarbeiten«, sagte Summer mit einem betörenden Lächeln.
Trevors Augen leuchteten auf.
»Von mir aus gern.«
22
Zahllose Eisbrocken, die in der Abenddämmerung wie ausgefranste Marshmallows in einer See aus heißer Schokolade wirkten, wogten im Wasser des Lancastersunds. Vor der Devon-Insel, die sich düster im Hintergrund abzeichnete, kroch ein schwarzer Koloss am Horizont entlang und zog eine schwarze Rauchfahne hinter sich her.
»Entfernung zwölf Kilometer. Es fährt einen Kurs, der unseren Bug genau kreuzt.« Der Rudergänger, ein rothaariger Fähnrich mit Segelohren, blickte vom Radarsichtgerät zum Kapitän des Schiffes und wartete auf eine Antwort.
Captain Dick Weber senkte das Fernglas, ohne das andere Schiff aus den Augen zu lassen.
»Halten Sie uns auf Kreuzkurs, zumindest bis wir eine Identifizierung haben«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen.
Der Rudergänger zog das Rad eine halbe Umdrehung herum, dann betrachtete er wieder den Radarbildschirm. Das vierundzwanzig Meter lange Patrouillenboot der kanadischen Küstenwache pflügte langsam durch die arktischen Gewässer und näherte sich dem entgegenkommenden Schiff. Die eigens für die Überwachung der östlichen Zufahrten zur Nordwestpassage konstruierte
Harp
war erst seit ein paar Tagen auf Station. Obwohl das winterliche Eis auch dieses Jahr wieder frühzeitig aufbrach, war dies das erste Handelsschiff, das das Patrouillenboot in den zu dieser Jahreszeit frostigen Gewässern sah. In ein, zwei Monaten würde ein steter Strom von mächtigen Tankern in Begleitung von Eisbrechern auf der Nordroute verkehren.
Noch vor ein paar Jahren wäre der bloße Gedanke, die Schifffahrt durch die Nordwestpassage zu überwachen, lächerlich gewesen. Seit den ersten Vorstößen des Menschen in die Arktis waren große Teile des Nordpolarmeeres das ganze Jahr über zugefroren gewesen, von ein paar Sommertagen einmal abgesehen. Nur ein paar abgehärtete Entdecker und gelegentlich auch ein Eisbrecher wagten sich durch die blockierte Passage. Aber die globale Erwärmung hatte alles verändert, und jetzt war die Passage jedes Jahr monatelang befahrbar.
Wissenschaftler schätzen, dass das arktische Eis in den letzten dreißig Jahren um rund hunderttausend Quadratkilometer geschrumpft ist. Dieses rapide Abschmelzen ist zu einem Großteil auf die sogenannte Eis-Albedo-Rückkoppelung zurückzuführen. In gefrorenem Zustand reflektiert das arktische Eis rund fünfzig Prozent der einfallenden Sonnenstrahlung. Das eisfreie Meerwasser hingegen absorbiert etwa vierundneunzig Prozent dieser Strahlung und reflektiert nur etwa sechs Prozent. Diese Erwärmungsspirale ist dafür verantwortlich, dass die Temperaturen in der Arktis doppelt so schnell steigen wie im globalen Durchschnitt.
Während er zusah, wie der Bug seines Patrouillenbootes durch das Treibeis schnitt, verfluchte er insgeheim all das, was ihm die globale Klimaveränderung angetan hatte. Er war von Quebec und dem bequemen Dienst am Sankt-Lorenz-Strom hierher versetzt worden und kommandierte jetzt ein Schiff, das an einem der abgelegensten Orte dieses Planeten eingesetzt war. Und die Aufgabe, die er hier hatte, war seiner
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