Polarsturm
mit dem nahenden Sommer würde das Eis genau dort aufbrechen, wo sich das Camp derzeit befand. Bei den täglichen Messungen des Eises unter ihren Füßen hatten sie festgestellt, dass das anfangs rund einen Meter dicke Eis bereits stetig schmolz und nur noch knapp vierzig Zentimeter dick war. Bue schätzte, dass er und sein aus vier Männern bestehendes Team noch etwa zwei Wochen Zeit hatten, bevor sie das Camp abbauen und auf die Evakuierung durch eine mit Skikufen ausgerüstete Twin Otter warten mussten.
Der Ozeanograf trottete durch den knöcheltiefen Schnee zur Funkerhütte. Im steten Rascheln der Eiskristalle, die der Wind über den Boden fegte, hörte er das Jaulen eines Dieselmotors, der ein ums andere Mal hochgejagt wurde. Er blickte an den Bauten des Camps vorbei und sah einen gelben Frontlader hin und her fahren und mit seiner Schaufel den angewehten Schnee zu hohen Haufen auftürmen. Das Fahrzeug hielt die hundertfünfzig Meter lange Rollbahn auf dem Eis sauber, die sich hinter dem Camp erstreckte. Die primitive Landebahn war die Verbindung des Lagers zur Außenwelt, denn auf ihr setzte die Twin Otter auf, die jede Woche Lebensmittel und andere Vorräte brachte. Deshalb sorgte Bue dafür, dass sie stets in Schuss gehalten wurde.
Ohne den herumkurvenden Frontlader weiter zu beachten, ging Bue in die Hütte, in der sich Labor und Funkraum befanden, und schüttelte an der Innentür den Schnee von seinen Schuhen, bevor er das Hauptgebäude betrat. Er lief an mehreren schmalen Nischen vorbei, die voller wissenschaftlicher Zeitschriften und Geräte lagen, und begab sich dann in ein kaum mehr als kleiderkammergroßes Kabuff, das die Satellitenfunkstation beherbergte. Ein Mann mit funkelnden Augen, rotblonden Haaren und einem fröhlichen Grinsen blickte vom Funkgerät auf. Scott Case war ein ausgezeichneter Physiker, der sich auf die Untersuchung der Sonnenstrahlung an den Polen spezialisiert hatte. Wie jeder andere im Camp aber hatte er mehrere Funktionen inne und war unter anderem auch für den Kontakt zur Außenwelt zuständig.
»Die Atmosphäre spielt mal wieder mit unseren Funksignalen verrückt«, sagte er zu Bue. »Der Satellitenempfang ist gleich null, und bei unserem anderen Sender sieht’s auch nicht viel besser aus.«
»Durch den aufziehenden Sturm wird es sich bestimmt nicht verändern«, erwiderte Bue. »Weiß Tuktoyaktuk überhaupt, dass wir sie zu erreichen versuchen?«
Case schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich habe keine Rückrufe empfangen.«
Das Röhren des Frontladers, der unmittelbar neben dem Gebäude eine Ladung Eis zusammenschob, hallte von den dünnen Wänden wider.
»Lässt du vorsichtshalber den Flugplatz sauber halten?«, fragte er Bue.
»Tuktoyaktuk wollte uns heute Vorräte bringen. Vielleicht wissen sie nicht, dass wir in etwa einer Stunde mitten in einem Blizzard mit orkanartigen Winden stecken. Versuchs weiter, Scott. Sieh zu, dass du den heutigen Flug abblasen kannst. Die Piloten werden’s uns danken.«
Bevor Case wieder auf Sendung gehen konnte, knisterte es im Lautsprecher des Funkgerätes. In dem statischen Hintergrundrauschen meldete sich eine befehlsgewohnte Stimme.
»Eisforschungslabor 7, Eisforschungslabor 7, hier ist NUMA-Forschungsschiff
Narwhal
. Hört ihr uns, over?«
Bue war vor Case am Mikrofon und antwortete sofort. »
Narwhal
, hier ist Dr. Kevin Bue von Eisforschungslabor 7. Sprechen Sie bitte.«
»Dr. Bue, wir wollten euch nicht belauschen, aber wir haben eure wiederholten Funksprüche an die Küstenwache in Tuktoyaktuk gehört, und wir haben ein paar unbeantwortete Funksprüche von Tuktoyaktuk empfangen. Klingt so, als ob ihr wegen des Wetters keine Verbindung miteinander bekommt. Können wir euch helfen und eine Nachricht weiterleiten?«
»Dafür wären wir euch sehr dankbar.« Bue ließ das amerikanische Schiff eine Nachricht nach Tuktoyaktuk senden, dass man die Versorgungsmaschine wegen des schlechten Wetters vierundzwanzig Stunden zurückhalten sollte. Ein paar Minuten später funkte die
Narwhal
die Bestätigung aus Tuktoyaktuk.
»Unseren besten Dank«, funkte Bue. »Das erspart ein paar armen Fliegern einen ruppigen Trip.«
»Keine Ursache. Wo liegt euer Camp übrigens?«
Bue funkte die letzte Position des driftenden Lagers, worauf das Schiff seine eigene durchgab.
»Seid ihr in der richtigen Verfassung, um den aufziehenden Sturm abzuwettern? Sieht so aus, als ob das ein ganz übler wird«, funkte
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