Polgara die Zauberin
ich zurückgreifen, bis ich eine ungefährliche Alternative gefunden habe.«
»Was immer du für das Beste hältst, Tante Pol.« Ildera lachte ein wenig wehmütig. »Die Götter wissen, daß ich nicht besonders gut darin wäre. Ich kann mir nicht einmal einen Splitter aus dem eigenen Finger ziehen.« Dann wurde ihre Miene sehr ernst. »Du bist dir ja im klaren darüber, daß das bedeutet, daß wir sie vom Rest des Dorfes fernhalten müssen, nicht wahr? Ein unbedachtes Wort könnte ihren Geist endgültig zerrütten.«
»Ich lasse mir etwas einfallen«, versprach ich ihr. »Weihe Geran ein, und sag ihm, daß ich mich darum kümmere. Ich will nicht, daß er seine Nase da hineinsteckt. Dieses unbedachte Wort, von dem du sprachst, könnte ebensogut von ihm wie von einer Klatschbase aus dem Dorf kommen.«
»Ich glaube nicht, daß er dir irgendwelche Schwierigkeiten in dieser Sache macht, Tante Pol. Er untersucht so eifrig jeden Zoll der Südwand des Steinbruchs, um den Fehler zu entdecken, der diesen Steinschlag verursacht hat, daß er kaum an etwas anderes denkt.«
»So lange er mir nicht in die Quere kommt. Oh, mein Vater hat sich angemeldet. Wenn er hier vorbeischaut, bevor er bei uns war, kläre ihn über Alaras Zustand auf und wie wir damit umgehen. Sag ihm, ich reiße ihm all seine Barthaare einzeln aus, wenn er sich einmischt.«
»Tante Pol!«
»Na ja, vielleicht nicht alle. Ich gehe jetzt besser heim. Von jetzt an muß ständig einer von uns auf Alara aufpassen.«
Vater traf zwei Tage später ein, aber ich wollte nicht vor Alara mit ihm reden. »Hinaus mit dir, Vater!« befahl ich. »Ich habe zu tun. Geh und unterhalte dich mit Geran und Ildera. Sie werden dir berichten, was geschehen ist.« Ich zeigte auf die Tür. »Raus!« kommandierte ich.
Vater mißverstand mich natürlich völlig. Er nahm an, mein Zornausbruch sei die Folge meines unbewältigten Kummers. Er irrte sich. Ich mußte mich mit etwas viel Wichtigerem befassen.
Später am Tag schickte ich nach Ildera, damit sie bei ihrer Schwiegermutter bleiben konnte, während ich Vater mit zum Waldrand nahm, wo wir uns ungestört unterhalten konnten.
»Sie ist also vollkommen verrückt?« seufzte Vater, nachdem ich ihn über Alaras geistige Verfassung aufgeklärt hatte.
»Das habe ich nicht behauptet, alter Wolf. Ich habe lediglich gesagt, daß sie die Tatsache ihrer Witwenschaft ausgeblendet hat.«
»Für mich klingt das ziemlich nach Verrücktheit, Pol.«
»Du hast nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst, Vater. Ein Wahn ist selten allumfassend. Alaras Krankheit beschränkt sich auf eine einzige Tatsache. Davon abgesehen ist sie vollkommen normal.«
»Zwischen deiner und meiner Definition von ›vollkommen normal‹ liegen offenbar Welten, Pol. Wie lange hast du vor, dieses Spielchen zu spielen?«
»So lange, wie es nötig ist, Vater. Ich werde Alara nicht um eines engstirnigen Begriffs von Realität willen zerstören. Sie sehnt sich nach ihrem Mann, aber weiter reicht ihr Kummer auch nicht. Wenn es sein muß, sorge ich dafür, daß sie den Rest ihres Lebens glücklich ist.«
Er zuckte die Schultern. »Du bist die Expertin, Pol.«
»Es freut mich, daß du das bemerkt hast. Woran arbeitest du zur Zeit?«
»Ich trete auf der Stelle, Pol, so wie jeder andere auch. Das ganze Universum hält den Atem an und wartet darauf, daß Ildera endlich einen dicken Bauch kriegt.«
»Das ist eine sehr unfeine Ausdrucksweise.«
»Ich bin nun mal ein unfeiner Mensch.«
»Du wirst staunen, aber das ist mir auch schon aufgefallen.«
Nachdem Vater ins Tal zurückgereist war, verbreiteten Ildera und ich in Annath, daß Alara ›unpäßlich‹ sei und absolute Ruhe und Frieden brauche – ›der plötzliche Verlust, ihr wißt schon‹. Die Damen von Annath nickten weise mit dem Kopf und gaben sich verständnisvoll, und so hatten wir keine Besucher mehr in unserem Haus am Nordende von Annath. Wir sorgten dafür, daß Alara das Haus nie ohne Begleitung verließ, und Gerans junge Frau entwickelte eine erstaunliche Geschicklichkeit, das Thema zu wechseln, wenn sie und ihre Schwiegermutter jemanden auf der Straße trafen. Sie konnte einem das Wort ›Beileid‹ im Mund abschneiden, bevor es einem über die Lippen kam. Alaras fragile geistige Gesundheit zu erhalten, avancierte zu unserer Hauptbeschäftigung. Wir wurden immer besser darin. Ildera allerdings hatte noch eine andere Aufgabe, und ich machte mir gelegentlich Sorgen darüber, daß sie damit so gar nicht vorankam. Sie half
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