Polgara die Zauberin
Darral wird bald nach Hause kommen, und du weißt, wie hungrig er dann immer ist.«
Das riß mich auf der Stelle in die Realität zurück. Ich kannte derartige Wahnvorstellungen, die häufig nach dem Tod eines geliebten Menschen auftreten. Manchmal unternimmt der menschliche Geist seltsame Dinge, um sich zu schützen. Wenn etwas zu schrecklich ist, weigert sich der Geist, es zur Kenntnis zu nehmen. Für Alara lebte Darral noch und würde über kurz oder lang zum Abendessen heimkommen.
Es gibt zwei Wege, dieser nicht seltenen Verwirrung zu begegnen. Der Gefühlsaufruhr in meinem eigenen Inneren verleitete mich, den falschen zu wählen. »Hast du es denn vergessen, Alara?« antwortete ich freundlich. »Darral mußte doch eine Geschäftsreise unternehmen. Er versucht, noch mehr Bieter für unsere jährliche Auktion zu finden.«
»Warum hat er mir das nicht erzählt?« Sie klang leicht gekränkt.
Ich nahm zu einer Notlüge Zuflucht, ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Es ist meine Schuld, Alara«, schwindelte ich. »Er kam heute morgen nach Hause – als du bei Ildera warst. Er sagte, es gäbe ein paar Baumeister in Erat, mit denen er sprechen wolle, und er bleibe ein paar Wochen fort. Ein paar Wagen, die durch das Dorf kamen, fuhren in dieselbe Richtung, und die Fahrer boten ihm an, ihn mitzunehmen. Er mußte auf der Stelle los. Eine unserer Nachbarinnen ist erkrankt, und ich war so beschäftigt mit ihr, daß ich vergessen habe, es dir zu erzählen. Es tut mir leid, Alara.«
»Oh, das geht schon in Ordnung, Pol«, verzieh sie mir. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Was hältst du davon: Jetzt, wo Darral eine Weile außer Haus ist, könnten wir doch mit unserem Herbstputz anfangen. Wenn er heimkommt, haben wir alles strahlend sauber.«
Da wußte ich, daß ich einen Fehler begangen hatte, aber es war zu spät, um ihn zu korrigieren. Die ›Geschäftsreise‹ würde Alaras Wahn nur noch verstärken und auf lange Sicht ihre Heilung erschweren. »Warum machst du uns nicht ein leichtes Abendessen, Liebes?« schlug ich vor. »Ich muß noch etwas mit Ildera bereden.«
»In Ordnung, Pol. Bleib nicht so lange.«
Ich eilte ans andere Ende des Dorfes zu dem soliden Blockhaus, das Geran für sich und seine Braut gebaut hatte. Geran war ein gewissenhafter Baumeister, der wollte, daß die von ihm geschaffenen Häuser lange hielten, so daß sein Heim Anzeichen einer Festung aufwies. Ich klopfte an die massive Tür.
Ildera, blond und liebreizend, öffnete sie. »Tante Pol«, begrüßte sie mich. Ich sah mich rasch um, um mich zu vergewissern, daß sie auch allein war. »Gibt es etwas Wichtiges?« fragte sie. »Wir haben ein Problem, Ildera«, eröffnete ich ihr.
»Ach?«
»Alaras Verstand hat ausgesetzt.«
»Gütige Götter!«
»Es ist nichts Gefährliches – noch nicht. Sie tobt nicht oder dergleichen, aber sie hat die Erinnerung an Darrals Tod vollständig aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Heute nachmittag hat sie mir erzählt, sie erwarte ihn zum Abendessen heim.«
»O Tante Pol!« Ilderas Augen waren ganz groß geworden. »Was können wir tun?«
»Wir belügen sie, Ildera. Ich habe aus dem Stegreif ein Märchen über eine Geschäftsreise erfunden – nur um sie über das Abendessen hinwegzubringen –, und jetzt, fürchte ich, müssen wir dabei bleiben. Weihe Geran ein, wenn er nach Hause kommt. Wir müssen Alara alle dieselbe Geschichte erzählen. Ich habe ihr erzählt, Darral habe eine Mitfahrgelegenheit gefunden und würde nach Erat gehen, um weitere Steinaufkäufer zu finden. Ich bin hergekommen, um sicherzustellen, daß wir ihr alle dieselbe Geschichte erzählen.«
»Aber am Ende müssen wir ihr die Wahrheit sagen.«
»Das weiß ich nicht genau, Ildera. Vielleicht verlängert sich Darrals Geschäftsreise.«
»Kannst du nicht –?« Ildera vollführte eine unbestimmte, geheimnisvolle Geste, die verschämt auf Zauberei hinweisen sollte. Das Wissen um mein ›Talent‹ war Bestandteil von Ilderas Belehrung anläßlich der Aufnahme in unsere Familie gewesen. Wie üblich überschätzte sie das, was ich auf dem Wege des ›Talents‹ ausrichten konnte, bei weitem.
»Ich denke nicht, Ildera. Der Verstand ist ein sehr komplizierter Mechanismus. Wenn du den einen Teil in Ordnung bringst, kannst du einen anderen unwiederbringlich schädigen. Ich liebe Alara zu sehr, als daß ich auf diese Weise an ihr herumexperimentieren möchte. Es gibt ein paar Kräutermischungen, die sie ruhig und glücklich machen. Darauf werde
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