Polivka hat einen Traum (German Edition)
der Tote im Waggon war sowieso ein Unfall.»
«Warum sind Sie da so sicher?»
«Weil die Leute von der Spurensicherung nichts Gegenteiliges gefunden haben.»
«Da gibt es schon Ergebnisse?», ruft Polivka erstaunt. «Und warum, bitte, weiß ich das noch nicht?»
«Weil Ihre Litzen silbern sind und meine golden.» Mit gedehnter Stimme hat der Oberst das gesagt, als spräche er mit einem Kind, dem man die Welt erklären muss. Er hängt in seinem Sessel, krumm wie eine welke Sonnenblume.
«Verzeihen Sie, wenn ich nachhake, Herr Oberst, aber es liegt doch auf der Hand, dass die Geschehnisse im Zug zusammenhängen.»
«Sicher hängen sie zusammen, Polivka, weil alles irgendwie zusammenhängt. Und trotzdem: Wenn Sie morgen das Spiegelei anbrennen lassen, ist nicht das Hendl von gestern schuld. Was ist denn groß passiert? Da hat einer – aus welchen Gründen immer – eine Frau ins Klo gesperrt und dann die Notbremse gezogen. Laut Gesetz ist das Erstere Freiheitsberaubung, das Letztere Missbrauch von Notzeichen. Das war’s dann aber auch. Weil, dass sich irgendwer dabei den Hals gebrochen hat, fällt unter Pech, nicht unter Mord.»
«Man sollte wenigstens versuchen, diese Frau zu finden.»
«Polivka, ich bitt Sie, tun S’ mich jetzt nicht langweilen. Wollen Sie vielleicht eine Fahndung rausgeben? Nach einer Unbekannten, die nichts anderes gemacht hat, als sich überfallen zu lassen, und die offenbar nichts anderes will als ihre Ruhe?»
«Nein, Herr Oberst.»
«Gut. Die Anzeigen sind bei den Akten, und der Rest erledigt sich von selbst. Ein schönes Wochenende, Polivka.»
Der Oberst senkt den Kopf und schließt die Augen. Seine gelben Tränensäcke zittern. Was auch immer jetzt in seinem Schädel vorgehen mag, denkt Polivka, mit den Ereignissen am Bahnhof hat es nichts zu tun.
«Herr Oberst?»
«Mein Gott, Polivka, was ist denn noch?»
«Der Tote, dieser Woditschka, hat seine Hände nicht gehoben.»
«Sagen S’ bloß, Sie haben ihn dazu aufgefordert.»
«Während er gestürzt ist, meine ich.»
«Das ist mit Sicherheit statistisch zu erklären. Der eine hebt, der andere nicht. Genauere Prozentzahlen hab ich nicht im Kopf, die lassen sich aber beschaffen, wenn Sie wollen.»
«Danke … Wird nicht nötig sein, Herr Oberst. Und verzeihen Sie die nochmalige Störung.»
Hammel sitzt und schwitzt vor dem Computer, seine dicken roten Finger tanzen auf der Tastatur. Seit seiner Rückkehr ins Büro versucht er, aus diversen digitalen Puzzleteilchen Woditschkas Biographie zu rekonstruieren. Die kümmerlichen Resultate liefern keinerlei Indiz für einen vorsätzlichen Mord: kein nennenswertes Barvermögen, keine kriminellen Verstrickungen und keine Frauen. Karl Woditschka aus Kritzendorf, geboren 1950, Einzelhandelskaufmann, kinderlos, ist zwar verheiratet gewesen, seine Gattin Waltraud aber ist vor sieben Jahren gestorben. Seither hat er das gemeinsame Brigittenauer Kurzwarengeschäft allein betrieben. Weder lassen sich Kontakte mit der Neonaziszene noch mit Schlepperbanden oder Kinderpornoringen feststellen. Woditschka war offensichtlich einer jener unscheinbaren Durchschnittsbürger, die als so genannter Mittelstand das demoskopische Herz, die budgetäre Nabelschnur und den evolutionären Blinddarm der heutigen westlichen Staatswesen bilden. Hammel tippt und schnauft, er wirkt verzweifelt.
«Lassen Sie’s», sagt Polivka, der eben das Büro betritt, «drehen S’ den Computer ab, die Sache ist erledigt, Hammel.»
«Wie … erledigt?»
«Unser hochgeschätzter Schröck hat uns zurückgepfiffen. Seiner Ansicht nach war alles nur ein Unfall. Er muss es ja wissen, er hat ja die goldenen Litzen am Kragen.»
«Also doch ein Unfall. Hab ich gleich vermutet», gibt Kollege Hammel dreist zurück. «Die anderen Passagiere haben ja auch nichts Ungewöhnliches bemerkt.»
«Weil sie geschlafen haben um drei viertel fünf in der Früh.»
«Nur zwei von ihnen. Der dritte hat laut eigener Aussage mit seinen Kopfhörern Musik gehört.»
Im Geist hebt Polivka zu zählen an. Zwanzig, neunzehn, achtzehn … Jede Zahl bedeutet einen Schritt, den er aus seinem Körper macht. Bei null hat er sich so weit von sich selbst entfernt, dass er gewissermaßen an der Zimmerdecke hängt und sich von oben auf die angegrauten Haare schaut. Sie könnten in der ersten Zeit der Umstellung zu Wutausbrüchen neigen , hat ihm die Diätberaterin erklärt und ihm zu diesem Trick geraten. Polivka muss widerwillig eingestehen, dass die Methode
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