Polivka hat einen Traum (German Edition)
Oppitz blickt zu Gallagher und nickt.
Der Knall ist ohrenbetäubend. Wie ein Donnerhall rollt er den Hügel aufwärts, ein gehetztes, blindes Tier, das tausendfach gegen die Lehmwände der Kellergasse stößt und dennoch immer weiterstürmt. Ein Tropfen Blut klatscht Polivka zwischen die Augenbrauen, ein roter Punkt auf weißer Haut, das dritte Auge der verheirateten Hindufrauen, Doktor Singh würde den Anblick wohl erheiternd finden.
Es ist Tilman Stranzers Blut.
Auf Oppitz’ Zeichen hin hat Gallagher die Flinte blitzartig herumgerissen und dem Herrn Europaabgeordneten ins Herz geschossen.
Von der Wucht des Einschlags aus dem Gleichgewicht gebracht, ist Stranzer einen Schritt zurückgetorkelt; er grinst immer noch, wenn auch ein wenig blöde. Schwer zu sagen, ob sich die Erkenntnis bis in seine grauen Zellen fortpflanzt, ehe ihm das Leben aus dem Körper weicht – es handelt sich um einen Wettlauf, dessen Sieger niemals feststehen wird. Noch ist der letzte Widerhall des Schusses nicht verklungen, da kippt Stranzer steif nach hinten und schlägt auf den Boden.
Mit dezentem Reifenknistern rollt der BMW neben der Leiche aus. Vier Männer springen auf das Straßenpflaster, um – gewandt und zügig – einen breiten Streifen Plastikfolie zu entrollen, den Toten darin einzuwickeln und gemeinsam in den Kofferraum zu hieven. Gleichzeitig putzt Gallagher mit einem Lappen das Gewehr und deponiert es neben Stranzers wurstförmig verpackten Überresten. Keine zehn Sekunden später klappt der Deckel zu; die Männer steigen wieder in den Wagen. Binnen kurzem haben sie sich auf der Bundesstraße Richtung Stadlwald davongemacht.
Diese präzise, formvollendete Aktion des Oppitz’schen Entsorgungstrupps nimmt Polivka nur noch verschwommen wahr. Vor seinen Augen hängt ein dunkler Schleier, auch die anderen Sinne lassen ihn jetzt zunehmend im Stich. Aus weiter Ferne, nebelhaft gedämpft, dringt eine Stimme an sein Ohr.
«Um großen Schaden abzuwenden», sagt der Fürst zu Gallagher, «muss man halt manchmal kleine Opfer bringen. Abgeordnete gibt’s aber eh genug; wir finden uns schon einen anderen.»
Zwei Autotüren fallen ins Schloss, der Motor springt mit leisem Schnurren an. Bald gleitet der Mercedes sanft dem Abendrot entgegen, überwindet eine Hügelkuppe und verschwindet.
Stille. Nur vom Hohlweg her tönt ab und zu ein zarter, schüchterner Gesang: Es ist dieselbe Amsel wie schon heute Mittag.
Polivka kann sie nicht hören. Er kauert auf der Straße, taub und blind vor Schmerz. Durch seine Hosenbeine sickert etwas Warmes, Flüssiges.
Gut, dass Sophie nicht da ist, denkt er.
Eins oder null, null oder eins. Der Zeiger auf dem Quantenchronometer zittert.
Im Brustkorb steigt ein Schwall aus Lava hoch, strömt durch den Hals, rollt glühend heiß über die Zunge und ergießt sich auf den Boden.
Schwarz, tiefschwarz ist Polivkas Erbrochenes.
Mit einem gurgelnden Geräusch sinkt er nach vorn und taucht in den finsteren, stinkenden Tümpel.
Null, zählt Polivka.
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Teil 4
Wien
29
Polivka hat einen Traum.
In diesem Traum wohnt er am Grund des Teichs, in einem ausrangierten Zugwaggon, der ihn nur hundert Burenwürste Miete kostet. In dem Wagen gibt es keine Küche, aber dafür einen eleganten grünen Sandwichautomaten. Polivka hat seinen ersten Arbeitstag (um welche Art von Arbeit es sich handelt, weiß er nicht) und eine Heidenangst, sich zu verspäten. Nach dem Frühstück (Huhn mit Erdnusspaste, das der Automat ganz selbstverständlich ausspuckt) bricht er auf und steht mit einem Mal in einem ungeheuren Labyrinth, in einer endlosen Favela gleichgearteter Waggons, die matt im Wasser schimmern. Durch das Halblicht flitzen Projektile, bilden schnurgerade Linien aus Luftbläschen, die glitzern wie gespannte Perlenketten. Aus der anderen Welt wird also wieder in den Teich geschossen. Bis auf die erstickten, dumpfen Einschläge der Kugeln in den Wagendächern ist kein Laut zu hören. Polivka will nicht getroffen werden, doch die vorgerückte Stunde lässt ihm keine Zeit, nach einem Unterschlupf zu suchen. Eilig hat er es, ganz furchtbar eilig. Trotzdem kommt er nicht voran; der Widerstand des Wasser und die reduzierte Schwerkraft lassen seine Beine haltlos auf der Stelle treten (dass er ohnehin nicht weiß, wohin er muss, spielt keine Rolle, Hauptsache, er ist rechtzeitig dort). Aus einer schmalen Gasse nähern sich drei nackte Kinder, einäugige Mädchen, die mit Fingern auf ihn zeigen.
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