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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Irgendetwas hat er falsch gemacht, er spürt den roten Punkt zwischen den Augenbrauen, das Kainsmal auf der Stirn. «Shubha prabhaat!», rufen die Mädchen, Worte, nie zuvor gehört und dennoch wohlvertraut. Der Vorwurf ist so ungeheuerlich, dass ihm für einen Augenblick das Herz stehen bleibt. «Shubha prabhaat!» Der Ruf schallt jetzt aus allen Gassen. Zwischen den Waggons zieht eine Menschenschar vorbei, ein Trauerzug in rot-weiß-blauen Ärztekitteln, Atemmasken über den Gesichtern. Nur der Anführer trägt einen Spaten in den Händen, alle anderen schleifen riesenhafte Plastiksäcke durch den Schlick. Die Rettung steckt in diesen Plastiksäcken, dessen ist sich Polivka bewusst. Er reißt den Mund auf, aber der Versuch zu schreien scheitert kläglich, seine Kehle ist wie zugeschnürt. Allein die Kraft seiner Gedanken lässt die schweigsamen Gestalten innehalten und ihn anstarren. Ohne ihre Blicke abzuwenden, ziehen sie etwas aus den Säcken (lange, grünlich glänzende Objekte, deren Sinn sich ihm noch nicht erschließt) und kommen auf ihn zu. Sie dringen auf ihn ein, die grünen Knüppel hoch erhoben. Jetzt erst kann er sehen, was sie da in den Fäusten halten: Gurken, frische, knackige Salatgurken.
    Und jetzt erst schafft er es: Er zwingt den Schrei über die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Was eben noch ein fürchterliches Brüllen werden sollte, hört sich zwar in der realen Welt wie das Gewimmer eines Neugeborenen an, doch es ist laut genug, ihn aufzuwecken.
    Polivka, den Neugeborenen. Den Säugling.
    Eine weiße Wiege, die nicht schaukelt. Eine Nabelschnur, die nicht zu seinem Bauch, sondern zu einem seiner Unterarme führt. Ein Mobile, das nur aus einem kleinen transparenten Beutel und einem Metalldreieck besteht. Ein Arzt, der ganz gewiss kein Kinderarzt ist, sondern das exakte Gegenteil: ein Pathologe und Forensiker.
    «Shubha prabhaat», sagt Doktor Singh. «Guten Morgen.»

    Der Mensch gleicht in gewisser Weise einem gut sortierten Weinkeller, besteht er doch aus einer Reihe von Gefäßen, deren Inhalt einer strengen Trennung unterliegt. Geraten seine Flüssigkeiten durcheinander, kollabiert über kurz oder lang das gesamte System. Ein Achtel Welschriesling verdirbt ein ganzes Fass Château Mouton-Rothschild (und umgekehrt), sodass dem ungeschickten Kellermeister nach ein paar fatalen Fehlgriffen nichts anderes übrig bleibt als der finale Gang ins Wasser.
    Nicht weniger lebensbedrohlich ist eine offene Magenperforation: Ein Gemisch aus Salzsäure, Schleim und Speisebrei bricht durch die Magenwand und flutet in die Bauchhöhle. Es kommt zu krampfartigen Schmerzen, inneren Blutungen, spontaner Darmentleerung und Erbrechen, wobei das Erbrochene vom Blut tiefschwarz gefärbt ist. Ein würdiger Auftakt für den nun folgenden Blitzkrieg des Körpers gegen seinen Wirtsmenschen: Die Schmerzen und der starke Blutverlust führen zu rascher Bewusstlosigkeit; die Kontamination der Bauchhöhle wieder zieht meist eine Bauchfellentzündung nach sich, die bald – von einer tatkräftigen Blutvergiftung unterstützt – auf weitere Organe übergreift. Am Ende schwimmt der ganze Weinkeller in einem giftigen Verschnitt aus einstmals reinen, wohlschmeckenden Sorten und macht notgedrungen seine Pforten dicht.
    So ähnlich, schildert Singh, sei es auch Polivka ergangen, und es grenze an ein Wunder, dass er gegen seinen schwachsinnigen Kellermeister, diesen inneren Schweinehund, den Sieg davongetragen habe. Umso mehr, als seine Einlieferung ins Mistelbacher Krankenhaus mit einiger Verzögerung erfolgt sei. Nach dem Schuss, den man bis hin zum Presshaus habe hören können, seien Sophie und Singh zwar gleich zu Polivka zurückgeeilt, doch habe die in aller Eile alarmierte Ambulanz noch eine gute halbe Stunde auf sich warten lassen. Nach der Notoperation in Mistelbach habe man Polivka – auf Singhs Betreiben hin – ins Wiener AKH gebracht, wo noch drei weitere Eingriffe an seinen lecken Innereien vorgenommen worden seien. Sechs Tage zwischen Tod und Leben: Erst nach einer Woche habe sich sein Zustand allmählich stabilisiert.
    «Nach einer Woche?» Polivka schüttelt benommen den Kopf. Seine Stimme klingt rau; sie kratzt im Hals wie ein Frottéhandtuch auf zarter Babyhaut. «Ja, sagen Sie, wie lang war ich denn weggetreten?»
    Doktor Singh bleckt seine weißen Zähne. «Nun … Man hat Sie für vierzehn Tage in künstlichen Tiefschlaf versetzt.»
    «Ich bin schon vierzehn Tage hier?»
    «Nicht ganz …» Singhs

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