Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
hörte nicht einmal, wie zwei kleine Zettel in mein Zimmer drangen.
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DER GUTE DEUTSCHE
ZWEI JUNGE MÄNNER, Zwillinge, sitzen am Küchentisch und sprechen über ihre Mutter. Sie liegt im angrenzenden Zimmer in ihrem
Krankenbett. Verzweifelt weint sie.
»Ja, daß Mutter diese Psychopharmaka nehmen muß, dieses Teufelszeug«, sagt der eine Bruder zum anderen, und man hört im Hintergrund
ein lautes Schluchzen. »Dabei brauchen wir sie doch so sehr«, sagt der andere und blickt unendlich ernst ins Leere. Der Ehemann
und Vater ist erst kürzlich bei einem Unfall ums Leben gekommen. Seither ist die Mutter unausgeglichen. Mühsam erhebt sie
sich und tritt zu ihren Söhnen in die Küche, wankend, zugedröhnt von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern. Sie blickt ihre Söhne
mit entrücktem Gesichtsausdruck an. Die beiden schauen fassungslos zurück.
Schnitt.
Ich hatte mich abends in meinem Zimmer des Hotels Europejski durch das Fernsehprogramm gezappt und war nun mittendrin bei
einer Folge von »M jak Miłość« – |70| »L wie Liebe« gelandet. Eine Fernsehserie, die zweimal wöchentlich läuft, der Quotenführer im polnischen Programm. Sie wird
regelmäßig von ungefähr zehn Millionen Polen geschaut.
Man sieht nun einen älteren Herrn, sehr schüchtern ist er, sitzt in einem Café einer Frau um die Vierzig gegenüber. Er stottert
sich bei einer Liebeserklärung voran, die sich die Frau geschmeichelt anhört, um schließlich melodramatisch zu erklären, daß
sich ihr innerstes Gefühl der von ihm angestrebten Liaison widersetzt. Und dann dauert es drei Minuten, in denen traurige,
sehr traurige Blicke ausgetauscht werden und auch verhaltene Tränen fließen. Denn das Schicksal, das Herz, das launisch ist,
es steht dem Liebesglück so schmerzhaft im Wege.
Schnitt.
Das nächste Krisenszenario. Ein junger Mann, kaugummikauend, sehr lässig, mit verstrubbelter Frisur und zu langen Jeans, hört
heimlich die Handymailbox seiner Freundin ab. Was er hört, sind Liebesschwüre seines Vaters. Der eigene Vater! Er schließt
die Augen, bedeckt sie mit einer Hand, eine Welt bricht zusammen. Er hat es geahnt, jetzt ist es gewiß, der reiche, sehr reiche
Vater, der Vater mit guten Manieren, der an der Spitze eines großen polnischen Konzerns steht, hat ihn hintergangen. Den eigenen
Sohn! Natürlich tritt in dem Moment die Freundin ins Zimmer, auch kaugummikauend. Sie sieht, daß ihr Freund sich an ihrem
Handy zu schaffen |71| gemacht hat, ist zunächst beleidigt, dann schämt sie sich, ahnt, daß ihr doppeltes Spiel enttarnt ist.
Anschließend sehr lange, sehr komplizierte Gespräche am Küchentisch. Die Folge endet damit, daß die beiden sich weinend gegenübersitzen.
Und ganz am Schluß, fast läuft schon der Abspann den Bildschirm herab, berühren sie sich doch noch an den Fingerspitzen. »M
jak Miłość« entläßt heute die Zuschauer mit einer vagen Hoffnung.
Damit verbringt also ein Viertel der fernsehfähigen polnischen Bevölkerung zwei Abende in der Woche zur besten Sendezeit,
und ich frage mich kurz, wie die polnischen Drehbuchschreiber es haben fertigbringen können, in eine Folge »M jak Miłość«
mehr Tristesse und Probleme einzubauen als in »Marienhof« und »Linden straße « in einem Jahr zusammen vorkommen.
Jemand fehlt in der Folge an diesem Abend: der Schauspieler Steffen Möller. Möller spielt einen Deutschen, einen Bauern Anfang
30 namens Stefan Müller, den es wegen der Kartoffelzucht nach Polen verschlagen hat. Er ist der Sympathieträger der Serie,
und das verwundert natürlich, denn Deutsche sind in der Regel selten positiv im Fernsehen konnotiert. Doch Müller lächelt
nicht nur ständig versonnen im Dorfcafé oder auf seinem Acker wie ein idealer Schwiegersohn vor sich hin, er ist auch der
Depp, der hoffnungslose Unglücksrabe in der an Schicksalsschlägen ohnehin nicht eben armen TV-Serie. Das erklärt seine Popularität.
So dürfen |72| Deutsche in Polen sein. Zweimal schon haben Stefan Müller die Frauen verlassen. Einmal gar vor dem Traualtar, als seine Verlobte,
einer alten Jugendliebe nachtrauernd, aus der Kirche floh. Je mehr Körbe er kriegt, um so mehr lieben ihn seine Zuschauer.
Die Serie zitiert damit eine alte polnische Sage. Die Sage von Wanda. Wanda, so heißt es, die Tochter des Krakauer Herzogs
Krak, soll um 700 in Polen geherrscht haben. Als der deutsche Fürst Rüdiger sie heiraten wollte, verweigerte ihm Wanda,
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