Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
mit
845 Złoty in die Hände des bösen Taxifahrers geraten. Die Wolkendecke reißt immer wieder auf, Schatten legen sich in scharfen
Kanten über die Stadt. Ich entschließe mich zu einem Rundgang durch die Altstadt. Nur meinen Reiseführer nehme ich mit.
Reiseführer sprechen in den ersten Zeilen gerne von Wahrzeichen einer Stadt: von der anmutheischenden Freiheitsstatue New
Yorks, vom monumentalen Kölner Dom, vom beständigen Bimmeln Big Bens. Wahrzeichen sammeln brennpunktartig, was die Stadt im
Mythos zusammenhält. Die kleine Wassernixe aus Stein, die Warschaus Stadtmauer schmückt, hat ihr mythisches Versprechen nicht
gehalten. Es heißt, sie sei einst auf zwei Fischer gestoßen. Sie befahl ihnen, genau dort, wo sie stünden, eine Stadt zu bauen.
Doch niemand weiß heute, was sie damals geritten hat, so schamlos zu lügen. |66| Sie suchte den Fischern nämlich mit ernster Miene weiszumachen, die Stadt, die sie gründen würden, werde unzerstörbar sein.
Da die Fischer Wars und Sawa gerade nichts Besseres zu tun hatten und vielleicht ein wenig naiv waren, ließen sie sich darauf
ein. Sie bauten flugs eine Metropole, die so lebensfroh war, daß sie jeder um 1900 das »östliche Paris« nannte. Doch die steinerne
Nixe der Altstadt, die in ihrer Rechten ein mächtiges Schwert schwingt und in ihrer Linken einen panzernen Schild erhebt,
war gegen die nationalsozialistische Barbarei nicht gewappnet. Von Hitler dem Erdboden gleichgemacht, war die östliche Metropole
über Nacht von der Landkarte Europas radiert; so gründlich, daß kein Stein mehr auf dem anderen lag.
Heute ist jeder Schritt zwischen den historischen Attrappen der Altstadt eine blendende Lüge. Die pastellfarbenen Häuser,
die mittelalterlichen Gassen und jede klassizistische Residenz sind Kopien aus vergilbten Stadtplänen. Man packte diese aus,
als nichts mehr zu retten war, als Warschau nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde.
Wer in der Altstadt schlendert, der schlendert auf unsichtbaren Trümmern der Gewalt; wer in die Touri-Droschke steigt, der
besteigt Disneyland. Und wenn neuerdings Dönergeruch durch die Altstadt strömt, China-Restaurants die Tore öffnen und hin
und wieder ein französisches Nobelrestaurant eingeweiht wird, um kurz darauf wieder zu schließen, dann verleiht dies Warschaus |67| Altstadt heute ein internationales Flair: Mein Reiseführer hat recht.
Doch der erste Blick trügt. Warschau ist wohl die einzige Großstadt der Welt mit Dönerbuden ohne Türken, China-Restaurants
ohne Chinesen und französischen Restaurants ohne Franzosen, von Italienern ganz zu schweigen. Die einzige nennenswerte ausländische
Population der Stadt, die Russen und die Vietnamesen aus der Ostblockzeit, leben an der Peripherie als verlorene Kinder kommunistischer
Einwanderungspolitik. Sie ernähren sich von billigen Einkäufen im »Jarmark Europa«. Dort, auf der anderen Weichselseite am
Fußballstadion, ersteht täglich der größte Basar Osteuropas. Er taucht in keiner Handelsbilanz auf, er ist der östliche Rand
Warschaus. Der Punkt der Stadt, an dem Rußland beginnt.
»Von den meisten Büchern bleiben bloß Zitate übrig. Warum nicht gleich nur Zitate schreiben?« fragte sich einmal Stanisław
Jerzy Lec in einem seiner zahllosen Aphorismen, die so gerne um Warschau kreisen. Er mag auch hier an Polens Metropole gedacht
haben, die wie keine andere Stadt seit jeher mit der brutalen Auslöschung des Bestehenden konfrontiert war und nun erneut
einen überreizten Neubeginn aus Zitaten der alten Welt zelebriert. Doch nur die Unschuld verträgt eine Stunde Null, nur sie
kann sich als unmarkierte Fläche behaupten, die Neues in sich aufsaugt wie ein |68| hungriges Kind. Und nur sie kann sich jetzt selbstverliebt mit westlichen Bildern vermählen, ohne sich bei der Hochzeitsfeier
sogleich zu besudeln. Man mag einwenden, daß die Unschuld nur ein kulturelles Phantasma ist, eine perfekte Lüge.
Aber die Kunst der Mimikry, das polnische Paradox der unschuldigen Inszenierung, birgt magischen Trost. In einer blendenden
Verdeckung gerinnen die Falten der Mode, der Rauch der Vogue und der falsche Oberlippenbart zu makellosen Mythen des Alltags.
Und so hält selbst der ungeliebte Plastikbaum am Rondo de Gaulle seine verbotene Frucht noch eine Weile zurück.
Zurückgekommen im Hotel Europejski, nach einem langen Fußmarsch, erbarmte sich meiner ein traumloser und dumpfer Schlaf. Ich
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