Polt - die Klassiker in einem Band
Raab gelegt worden.“
„Ich kann mich erinnern.“ Frau Habesams Elsterngesicht wirkte jetzt weicher. „Sauber eingepackt war der Bub, als hätte ihn die Mutter gar nicht gerne hergegeben. Frauen sind eben doch die besseren Menschen, Inspektor, auch wenn sie Unrecht tun.“
„Wie Sie meinen. Was bin ich schuldig?“
„21 Schilling. Wenn Sie’s bitte klein haben. Wenig Wechselgeld in der Kasse. Und wohin geht die Reise?“
„Zum alten Zollhaus.“
„Zum Professor? Na fein. Der ist in den 60er Jahren ins Dorf gekommen. Er hat den Traktor gelenkt, auf dem Kotflügel ist noch jemand gesessen, und auf dem Anhänger war eine riesige schwarze Maschine. Ein richtiger Spinner. Sie werden ja sehen!“
Polt folgte von Brunndorf aus einem Güterweg in nordöstlicher Richtung und hielt vor einem düster wirkenden zweistöckigen Gebäude. An der Schmalseite des Hauses war in riesigen Buchstaben und Zahlen eine Formel aufgemalt, mit der Polt nichts anzufangen wußte. Er trat näher. In einem kleinen Behälter an der Tür lagen Flugblätter. „Nieder mit Einstein!“ las Polt und „Die etablierte Wissenschaft widerlegt sich selbst.“ Er spähte ins Innere und sah eine große Druckerpresse, auf dem Boden lagen Papierbögen und waren Schachteln gestapelt.
„Schönen guten Tag, mein Herr!“
Polt schrak zusammen, als er die Stimme hinter sich hörte, drehte sich um und schaute einem stämmigen weißhaarigen Mann ins Gesicht. „Grüß Gott, Herr … Wehdorn, nicht wahr?“
„In der Tat. Dieter Wehdorn ist mein Name.“
„Grüß Gott also. Und entschuldigen Sie bitte meine Neugier.“
Die Augen des alten Mannes funkelten belustigt und offensichtlich auch ein wenig boshaft. „Es gibt nichts zu entschuldigen. Wer nicht mehr neugierig ist, ist so gut wie tot. Außerdem sind Sie Gendarm. Demnach ist Ihre Neugier sogar dienstlich.“
„Sie kennen mich?“
„Nein. Aber Sie haben die Augen eines Gendarmen. Es gibt Berufsaugen, wissen Sie. Fotografen haben zum Beispiel auch welche, oder Uhrmacher, oder Politiker.“
„Aha.“ Polt war überfordert.
„Und Sie kommen im Zusammenhang mit den Untaten dieser vier Lausbuben?“
„Sind Sie Hellseher?“
„Nein, Physiker. Aber ich hatte nur einmal in meinem Leben Kontakt mit der Gendarmerie. Das war, als mir die kleinen Kerle alle Fenster zerschossen haben. Reife Leistung übrigens. Es sind 48 Stück. In nicht einmal fünf Minuten war das Spektakel vorbei. Inklusive Absetzbewegung.“
„Warum haben die Buben das getan? Was glauben Sie?“
„Aus Lust an der Zerstörung. Es gibt in der Entwicklung von Kindern nun einmal eine destruktive Phase. Und da ist kein Haus weit und breit, bei dem man ungestört so viele Scheiben zertrümmern könnte.“
„Hat wenigstens eine Versicherung den Schaden bezahlt?“
„Versicherung? Daß ich nicht lache. Meine Kinder haben mir geholfen. Die üben gottlob bürgerliche Berufe aus. Und was die vier Bengel angeht, werden sie schon auch noch zahlen.“
„Und wie stellen Sie sich das vor, Herr Wehdorn?“
„Ich warte, bis sie älter geworden sind und fähig einzusehen, was sie angerichtet haben. Dann werde ich mit denen in aller Ruhe reden. Aber wollen Sie nicht ins Haus kommen?“
„Gerne, ja.“ Polt folgte ihm. „Ich frage jetzt einmal ganz dumm. Die Leute nennen Sie Professor. Sind Sie denn einer?“
„Ach wo. Einmal während meines Studiums hätte ich die Chance auf einen Assistentenposten bei einem berühmten Dampfmaschinenkonstrukteur gehabt. Ich habe nein gesagt, weil ich ungebunden bleiben wollte. War vielleicht ein Fehler.“
„Und was haben Sie gegen Einstein?“
„Ich weise ihm elementare Rechenfehler nach. Das macht ihn mir mehr als verdächtig, ob Genie oder nicht.“
„Jetzt möchte ich noch etwas wissen. Die Formel, draußen an der Wand?“
„Bradleys Aberrations-Cosinus. Waren Sie nie in der Schule?“
„Schon, aber in Physik war ich noch schwächer als in den anderen Gegenständen.“
„Immerhin dienen Sie der Menschheit und haben ein geregeltes Einkommen. Ich drucke eine wissenschaftliche Zeitschrift, die kein Mensch liest, und schreibe Bücher, die kein Mensch kauft. Nicht schlecht, was?“
„Und wovon leben Sie? Bitte nehmen Sie’s nicht persönlich.“
„Warum? Eine berechtigte Frage. Das meiste von dem, was meine Frau und ich so brauchen, gibt der Garten her. Und manchmal bringt meine Arbeit ja doch was ein.“
„Ihre Frau? Kein Mensch hat mir gesagt, daß Sie verheiratet
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