Polt - die Klassiker in einem Band
aufgefallen, jetzt kommt es mir wieder: Unter einem Auge hat man ein kleines Muttermal erkennen können – ist ja nicht so häufig.“
„Es waren ja auch viele Fremde im Dorf, in der Zeit nach dem Krieg, nicht wahr?“
„Besatzungssoldaten natürlich, leider. Jaja, ein paar Russenkinder werden heute schon noch leben. Und dann die hungrigen Leute aus der Stadt. Aber den auf dem Foto habe ich nie gesehen.“
Der Gendarm schaute nachdenklich auf das Stück Papier. „Hat es öfter solche Findelkinder gegeben, damals?“
Frau Raab hustete. „Damals und nachher auch noch, bis in die 60er Jahre. Die Männer haben ihren Spaß mit den Mädchen gehabt, und die sind dann verzweifelt mit den Bälgern dagestanden, ohne Ehe, ohne Beruf und bettelarm. Da hat man schon auf Ideen kommen können. Bei mir hat’s gottlob nie eingeschlagen.“ Sie schob das Foto zu Polt hin. „Sie können es gerne haben. Mir bedeutet es nichts. Ob das jetzt der Vater war oder nicht, dem tut wahrscheinlich schon lange nichts mehr weh.“
„Da haben Sie vermutlich recht, Frau Raab. Dann sage ich eben dankeschön.“
„Sie gehn schon wieder?“
„Ja, leider. Ich muß ja noch ein bißchen arbeiten, bis zur Pensionierung.“
„Auch wieder wahr.“ Frau Raab tätschelte ihn aufmunternd. „Gehn Sie nur schön meine Rente verdienen!“
Polt nahm das Foto, trat vors Haus, und bevor er es in die Rocktasche steckte, warf er noch einen Blick darauf. „Wenn ich nicht wüßte, daß es absolut keinen Sinn ergibt“, sagte er zu sich selbst, „würde ich meinen, daß der Herr Frieb einmal so ausgesehen hat.“
Dann schaute er auf den Gepäckträger des Fahrrades, sah dort den braunen Papiersack mit den zwei Wurstsemmeln, nahm eine davon heraus und begann gedankenverloren zu essen, während er langsam durch Burgheim fuhr. Es war ein Wesensmerkmal von Semmeln aus Aloisia Habesams Kaufhaus, daß sie von blaßgelber bis weißlicher Färbung waren und, gleichviel zu welcher Tageszeit sie gekauft wurden, die Konsistenz eines zu fest geratenen Erdäpfelknödels hatten. Neu für Polt war ein deutlich seifiger Geschmack der Käsewurst. Nach ein paar Bissen hörte er auf zu essen. Er dachte an den gelehrten Herrn Wehdorn im Zollhaus und daran, wie er sich mit seiner Frau tapfer und frohgemut durchs Leben schlug. Entschlossen bog Polt Richtung Kirchenwirt ab und betrat die Gaststube. Franzgreis schaute ihm erstaunt entgegen. „Simon Polt! Ein seltener Besuch in letzter Zeit!“
„Wird schon wieder werden. Hast du einen Abnehmer für zwei ungenießbare Wurstsemmeln?“
„Natürlich. Die Asta, meinen Prachthund. Die hat das dem Kommissar Rex abgeschaut.“
Polt grinste. „Da sieht man wieder, wie schädlich Fernsehen für Hunde ist. Ein großes Bier bitte. Und ein großes Gulasch.“
„Mit Habesam-Semmeln?“
„Nein, du Ekel. Mit einem Knödel, einem großen.“
Polt aß mit Behagen. Er war immer noch bedrückt, aber es ließ sich aushalten. „Bis bald, Franzgreis!“ Er begab sich nach Hause und sah mit Freude seinen Kater schnurrend auf der Fensterbank liegen. Dann nahm er den Robisch und zog zwischen den Linien, die Breitwiesers Unfall und die Meldung Gapmayrs betrafen, einen Kreidestrich für die flüchtende Bubenbande. „Ich weiß nicht, mein Guter, wie das zusammenpassen soll“, sagte er zu Czernohorsky, und der Kater gähnte.
„Was Neues?“ Ausgeschlafen trat Polt am nächsten Morgen seinen Dienst an. Ernst Holzer, der eine lange Nacht hinter sich hatte, gähnte. „Wie man es nimmt, Simon. Der Sohn von unserem verehrten Herrn Bürgermeister hat zum dritten Mal den Führerschein abgeben dürfen. An der Grenze wurden 18 Koreaner aufgegriffen, der Schlepper ist natürlich auf und davon. Die Frieb-Brüder haben sich ungewöhnlich friedlich in der Burgheimer Kellergasse niedergesoffen und sind zu Hause abgeliefert worden. Ja, und in einem Stadel sind Kinder beim Zündeln erwischt worden, leider zu spät: Die Feuerwehr hat ausrücken müssen. Deine vier Helden waren es aber nicht. Also, ich geh dann.“
Polt sah die am Vortag erschienene Ausgabe der Lokalzeitung auf einem der Schreibtische liegen. Er nahm sie, goß Kaffee aus der Filtermaschine in eine dickwandige Tasse und machte sich an die dienstliche Morgenlektüre. Die Bezirkshauptstadt Breitenfeld und ihre Katastralgemeinden hatten Streit wegen der Planung ihrer Kläranlagen, die Feuerwehr von Burgheim war mit einer Übung erfolgreich gewesen, und das renovierte Steinkreuz vor der
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