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Polt - die Klassiker in einem Band

Polt - die Klassiker in einem Band

Titel: Polt - die Klassiker in einem Band Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Mittagsstunde kam. Punkt zwölf rief er Dr. Perner an.
    „Ein erstaunlich zähes Vieh“, klang es aus dem Hörer. „Aber der Kater ist noch nicht über den Berg. Bis zum Abend bleibt er bei mir. Dann werden wir weitersehen, wenn überhaupt.“
    „Wenn überhaupt!“ wiederholte Polt empört, nachdem er aufgelegt hatte. Dann legte er sich aufs Bett, schaute zur Zimmerdecke hoch und dachte an dies und jenes. Karin und er würden derzeit ein hübsches Paar abgeben, wenigstens äußerlich, aber die Lehrerin war wohl nicht in der Laune für einen Wettbewerb der blauen Flecken. War es überhaupt noch sinnvoll, der Sache mit Willis Tod nachzugehen und sich damit Unfrieden einzuhandeln? Willi war eben nicht mehr da, das wurde im Wiesbachtal beiläufig zur Kenntnis genommen. Als er noch lebte, hatte ihn ja auch niemand beachtet. Nur einmal war er sogar in die Zeitung geraten. Polt stand auf, wartete, bis sich das Schwindelgefühl gelegt hatte, und kramte dann in einem Stapel alter Zeitungen, bis er eine bestimmte Ausgabe gefunden hatte. Vor einigen Wochen war nämlich im Lokalblatt eine kleine rührselige Geschichte erschienen, die Willi zum Thema hatte. Der Redakteur, dessen weithin gefürchtetes lyrisches Schaffen im Zeitungsalltag für seinen Geschmack viel zuwenig Beachtung finden durfte, hatte einen vorübergehenden Mangel an aktuellen Ereignissen dazu genutzt, seine Sprachgewalt zu beweisen. Schon der Titel „Das Schweigen des Lammes“ verhieß Tiefschürfendes. Nach ein paar einleitenden Zeilen stand zu lesen:
    Willi hatte noch Glück. In den grausamen Wirren der Nachkriegszeit blieb sein kaum erwachtes Leben verschont. Von unbekannten Eltern gleichgültig und herzlos weggelegt, fand er Erbarmen. Es ist für ihn gesorgt. Doch kann der mit klarem Verstande gesegnete Betrachter bei diesem gedankenleer verdämmernden Leben von Glück schreiben? Mag sein, daß Willis Eltern längst gestorben sind, doch mit ihren Gebeinen liegt ihre Schuld nicht mit begraben. Aus dem Schweigen ihres unglückseligen Kindes tönt das Fanal bitterer Anklage und ungesühnter Schuld. Sein leeres Gesicht spiegelt die Fratze jener wider, die ihn verantwortungslos gezeugt und allein gelassen haben. Waren sie womöglich wie er gewesen? Gedankenlos dem dumpfen Drängen tierischer Triebe folgend? Wir werden es wohl nie erfahren.
    Polt wurde jedesmal ärgerlich, wenn er diese Zeilen unter die Augen bekam. Auch dem eitlen Tropf von Redakteur war der Willi egal gewesen. Und ob seine Eltern nicht auch aus verzweifelter Not gehandelt haben könnten, interessierte ihn nicht. Hauptsache, er konnte sich als Schreiber wichtig machen. Willis Tod hatte später in einer zweizeiligen Notiz Platz finden müssen.
    Polt lächelte böse. Dann zerknüllte er die Zeitung, trug sie vors Haus, hielt ein brennendes Zündholz daran und schaute befriedigt zu, wie das schwülstige Elaborat in Flammen aufging. Mit neu erwachter Tatkraft holte er sein Fahrrad hervor, bestieg es mit einiger Mühe und stellte dann fest, daß alles halb so schlimm war.
    Erst wollte er zum Runhof, weil er sich Sorgen um Frau Breitwieser machte. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Leben der beiden alten Leute im Gutshof an der Grenze ablief. Was redeten sie miteinander nach all den Jahren? Und wie wurden sie mit der drohenden Gerichtsverhandlung fertig? Frau Breitwieser schien resigniert zu haben und wirkte kraftlos. Ihr Mann machte sich zwar auch keine Illusionen, was die Zukunft betraf, hielt aber den Kopf aufrecht. Als er auf der Suche nach seiner Frau in die Dienststelle gekommen war, hatte allerdings auch er einen erbärmlichen Eindruck gemacht. Polt kam zum Schluß, daß es besser sei, die beiden vorerst in Ruhe zu lassen. Er nahm in Brunndorf einen Feldweg, der zurück nach Burgheim führte, und überquerte die Gleise der stillgelegten Lokalbahn. Es hieß, daß sie im Dienste des Fremdenverkehrs neu belebt werden sollte. Fremdenverkehr! Das Wiesbachtal war ein verwunschener Fleck Erde. Die wenigen privaten Weinkunden kamen, kauften und gingen, und kaum einer nahm sich Zeit für den langsamen Rhythmus des Hügellandes und hatte ein Gespür für seine ruhige, eindringliche Melodie.
    In Burgheim fand sich Polt, ohne es wirklich gewollt zu haben, vor Aloisia Habesams Kaufhaus wieder. Er trat ein, und gleich umfing ihn jene seltsame Mischung aus Gerüchen, die er schon als Bub gemocht hatte: Waschpulver, Schokolade, Kaffee, Äpfel und noch viel mehr. Schon gut, in Nuancen mochte sich die

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