Poor Economics
der Zeit nicht da waren. Die Distriktverwaltung beschloss daher, die Arbeitsvorschriften für die Krankenschwestern zu verschärfen. Nach den neuen Vorschriften musste die leitende Schwester jeden Montag den ganzen Tag über im Gesundheitszentrum anwesend sein. Sie durfte an diesem Tag keine Krankenbesuche machen (eine beliebte Ausrede, um nicht zur Arbeit zu kommen). Seva Mandir bekam den Auftrag, die Anwesenheit zu kontrollieren. Jede Schwester erhielt einen elektronischen Handstempel mit Zeit- und Datumsanzeige und musste ihre montägliche Anwesenheit im Gesundheitszentrum dokumentieren, indem sie zu bestimmten Zeiten einen Stempel auf einen an der Wand befestigten Plan setzte. Wer nicht mindestens 50 Prozent der Zeit da war, erhielt eine Lohnkürzung.
Um den Erfolg der Maßnahme zu kontrollieren, schickten wir unabhängige Beobachter aus dem Forschungsteam los, um die Fehlzeiten zu ermitteln, und zwar sowohl in den Gesundheitszentren, die Seva Mandir überwachte, als auch in anderen, für die die neuen Vorschriften zwar ebenfalls galten, die jedoch nicht überwacht wurden. 34 Anfangs lief alles nach Plan. Die Anwesenheitszeiten, die vor Programmbeginn bei etwa 30 Prozent gelegen hatten, schnellten in den überwachten Zentren bis August 2006 auf 60 Prozent hoch und blieben in den anderen unverändert. Alle waren begeistert (mit Ausnahme der Krankenschwestern, wie sie uns unmissverständlich klarmachten, als wir mit ihnen sprachen). Aber irgendwann im November kam die Wende. Die Anwesenheitszeiten in den überwachten Zentren begannen zu sinken und sanken immer weiter. Im April 2007 lagen die
überwachten und die nicht überwachten Zeiten auf niedrigem Niveau gleichauf.
Wir sahen uns an, was da vorging, und stellten fest, dass die registrierten Fehlzeiten auch nach Abbruch des Programms niedrig blieben. Was dagegen stark anstieg, waren die »Freistellungstage«, Tage, an denen die Krankenschwestern aus bestimmten Gründen (am häufigsten wurden Fortbildungen und Besprechungen genannt) nicht ins Gesundheitszentrum kamen. Warum war die Zahl der Freistellungstage so plötzlich in die Höhe geschossen? Wir versuchten, das herauszufinden, aber an den betreffenden Tagen hatten weder Besprechungen noch Fortbildungen stattgefunden. Die einzig mögliche Erklärung war, dass alle Vorgesetzten der Krankenschwestern beschlossen hatten, darüber hinwegzusehen, als die Schwestern auf einmal 30 Prozent mehr Freistellungstage aufschrieben. Tatsächlich endete die ganze Geschichte für die Schwestern in den überwachten Zentren sogar mit einer Dreingabe: Sie hatten gemerkt, wie wenig sich ihre Vorgesetzten dafür interessierten, ob sie zur Arbeit erschienen oder nicht, und für sich den Schluss gezogen, dass sie sogar noch zu oft kamen. Irgendwann fiel die Anwesenheitszeit in den überwachten Zentren unter die der nicht überwachten und blieb bis zum Ende der Studie niedriger. Am Schluss waren die Krankenschwestern nur noch 25 Prozent der Arbeitszeit anwesend. Niemand beschwerte sich. Die Dorfbewohner waren so daran gewöhnt, dass die Gesundheitszentren nicht besetzt waren, dass sie das Interesse daran ganz und gar verloren hatten. Bei unseren Besuchen im Dorf trafen wir nur selten jemanden, der bestätigen konnte, dass die Schwester nicht da war. Die Leute hatten diese Einrichtung aufgegeben und hielten es für Zeitverschwendung herauszufinden, was die Schwester gerade tat, geschweige denn sich darüber beschweren zu wollen.
Neelima Khetan, die Leiterin von Seva Mandir, bietet für das Geschehene eine interessante Erklärung an. Sie selbst ist eine Person, die immer mit gutem Beispiel vorangeht. Sie stellt hohe Ansprüche an ihr eigenes berufliches Tun und erwartet von anderen
dasselbe. Die Krankenschwestern bereiteten ihr Kopfzerbrechen, weil diese mit ihrer Pflichtvernachlässigung anscheinend so leichtfertig umgingen. Doch sie entdeckte, dass das, was man den Krankenschwestern zumutete, eigentlich unglaublich war: Sie müssen sechs Tage pro Woche arbeiten. Nachdem sie eingestempelt haben, nehmen sie ihren Medizinkoffer und machen sich auf den Weg in die kleinen Dörfer in der Umgebung. Sie marschieren, auch bei 38 Grad im Schatten, bis zu 4,5 Kilometer in die nächste Ortschaft. Dort gehen sie von Haus zu Haus und prüfen den Gesundheitszustand von Frauen im gebärfähigen Alter und den ihrer Kinder. Sie versuchen, ein paar desinteressierte Frauen von einer Sterilisation zu überzeugen. Nach fünf oder sechs Stunden wandern
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