PopCo
Offenbar hat jemand einen falschen Zug gemacht. Ich kann von
hier aus nicht viel erkennen, doch Hiro hat das Gesichtin den Händen vergraben, daher vermute ich mal, dass er es war.
«Hast du dich gerade mit diesem Kieran unterhalten?», fragt mich Esther.
«Ja. Der ist schon ein bisschen seltsam, oder?»
«Er hat sich Mac heute Nachmittag ziemlich zur Brust genommen. Was hat er dir denn erzählt?»
«Ach, alles Mögliche über seine Experimente mit virtuellen Produkten.»
«Das macht mir echt Angst», sagt Esther. «Stell dir das mal vor, du bist in deiner Online-Spielwelt unterwegs, suchst gerade
irgendwen zum Abmurksen, willst an Informationen kommen oder an einen Heilzauber oder sonst was Wichtiges, und dann kommt
plötzlich so ein Dödel vorbei und will dir virtuelle Turnschuhe verkaufen.» Sie legt die Stirn in Falten. «Eigentlich auch
nicht anders als im richtigen Leben. Hmm.»
«Kieran hat gar nichts dazu gesagt, welche PopCo-Produkte eigentlich virtuell werden sollen, falls man das überhaupt so sagen
kann», bemerke ich. «Abgesehen von den K-Sachen natürlich.»
«Ich weiß, dass sie Minispiele ausprobieren», sagt Ben. «Jemand aus unserem Team arbeitet mit Kierans Team daran.»
«Minispiele?» Ich bin verwirrt.
«Also praktisch Spiele im Spiel?», fragt Esther.
Ben nickt. «Genau. Eine Idee sieht vor, kleine virtuelle Handkonsolen zu entwickeln, die man seinem Avatar kaufen kann, was
echt ziemlich abgedreht wäre, wenn man das mal zu Ende denkt. Aber angefangen haben sie mit Sammelkarten. Man soll diese virtuellen
Karten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Spielwelt kaufen, verkaufen und eintauschen können, und wenn man in der Spielwelt
jemanden trifft, kann man ihn zu einem Kartenkampf herausfordern.»
Esther beißt sich unvermittelt auf die Lippe. «Meint ihr, inhundert Jahren leben wir alle in so einem Spiel und arbeiten für virtuelle Arbeitgeber, die virtuelle Produkte vertreiben,
während irgendeine unsichtbare Unterschicht unseren Müll wegräumt, Essen macht und alle anderen Arbeiten in der richtigen
Welt erledigt?»
Ihre Frage steht ein, zwei Sekunden zwischen uns im Raum. Ich denke darüber nach zu erwidern, dass wir doch längst in so einer
Welt leben, doch da ertönt vom Go-Tisch ein kleiner Jubelschrei, der uns anzeigt, dass Grace gewonnen hat.
***
Als mein Großvater heimkommt, platze ich beinahe vor Fragen, doch es sieht ganz danach aus, als würde keine davon an diesem
Abend noch beantwortet werden. Ich gehe alleine schlafen, während er unten immer weiter mit meiner Großmutter flüstert. So
lange bin ich bisher noch nie aufgewesen. Um drei Uhr morgens schlafe ich immer noch nicht. Mein Großvater weiß, wo ein geheimer
Schatz vergraben liegt – wie soll ich denn mit diesem Wissen schlafen? Ich knipse die Nachttischlampe an und betrachte mein
Medaillon mit seiner seltsamen Kombination aus Zahlen und Buchstaben, 2.14488156Ex48, und dem komischen Symbol darunter, das
fast aussieht wie eine liegende 8, aber dann auch wieder nicht. Wenn ich bloß wüsste, was das alles zu bedeuten hat. Natürlich
hält mich auch die Erkenntnis wach, dass diese ganze Sache – die Schatzkarte, das Medaillon und alles – auch der Grund dafür
sein muss, dass mein Vater verschwunden ist.
Am nächsten Tag bin ich viel zu müde, um in die Schule zu gehen. Mein Großvater lässt mich bis zehn Uhr schlafen und macht
mir dann eine große Schüssel Porridge zum Frühstück. Ich will so viel auf einmal wissen, dass es mein ganzes Gehirn verstopft,
und so sitze ich nur schweigend am Küchentischund weiß nicht recht, wo ich anfangen soll. Schließlich stelle ich eine ziemlich eigenartige Frage.
«Kann ich es sehen?», frage ich und schaue dabei in die Schüssel, wo der geschmolzene Zucker seltsame Wirbelmuster auf dem
Porridge bildet.
«Was denn?», fragt mein Großvater.
«Das Stevenson-Heath-Manuskript.»
«Wozu willst du das denn sehen?», fragt er in einem Ton, als hätte ich etwas grauenhaft Langweiliges von ihm verlangt, beispielsweise,
mir die Innenseite eines Regenschirms anzuschauen oder die Rückseite eines Teelöffels.
Ich spüre, wie mein Kopf ganz heiß wird von einer seltsamen Sorte Wut. «Das ist doch schließlich an allem schuld!», rufe ich
heftiger, als ich wollte. «Ich habe ein Recht darauf, es zu sehen. Ich muss dieses Medaillon tragen … und außerdem habe ich wegen all dem keinen Vater mehr. Ich will doch nur … ich
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