PopCo
Perspektiven erzeugen tatsächlich oft mehr Ideen, als man glaubt. Wir wissen
schließlich alle, dass Routine der Tod der Kreativität ist – übrigens einer der vielen Wahlsprüche der Firma PopCo, die allesamt
von unserem verrückt-genialen CEO Steve MacDonald, genannt Mac, stammen.
Mit meinem Koffer sehe ich vermutlich aus, als wäre ich auf der Flucht, geht mir durch den Kopf, als ich das Bahnhofsgebäude
verlasse und mich nach rechts wende, wo eine kleine Einkaufsstraße beginnt. Weil sonst keiner da ist, der mich sehenund etwas über mich denken könnte, habe ich plötzlich Zweifel an meiner Existenz. Die Turnschuhe haben meine Schritte unhörbar
gemacht, was das Gefühl des Nicht-Seins nur noch verstärkt. Ich gehe lautlos, vor Morgengrauen, durch eine fremde Stadt, und
kein Mensch sieht mich dabei.
In letzter Zeit ertappe ich mich oft dabei, dass ich so ziemlich jede Technik aus den KidSpy-, KidTec- und KidCracker-Sets
auch im Alltag anwende, wie albern das auch sein mag. Wenn ich beispielsweise einen oder mehrere Leute auf der Straße genauer
ansehen möchte, beobachte ich ihr Spiegelbild in einem Schaufenster. Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, mache ich unsinnige Umwege,
für den Fall, dass mir jemand folgt und sich meine Gewohnheiten einprägen will. Und ich gebe mir Mühe, nirgends Spuren zu
hinterlassen. Anfangs war das nur eine Art Rollenspiel. Die Fähigkeit, mich quasi auf Kommando in eine neun- bis zwölfjährige
Außenseiterin zu verwandeln, ist eine unerlässliche Voraussetzung für meine Arbeit. Und mein nächster Gedanke beweist im Grunde
nur, wie sehr ich mich der neun- bis zwölfjährigen Psyche schon angenähert habe:
Cool! Eine andere Identität! Als würde man in eine Telefonzelle gehen und als völlig neuer Mensch mit geheimen Superkräften
wieder rauskommen!
Das Codeknacker-Set KidCracker war leichter zusammenzustellen als die anderen beiden, hat aber auch deutlich weniger Spaß
gemacht. Für KidSpy und KidTec musste ich mir lauter neue Dinge aneignen, aber KidCracker war keine große Herausforderung,
weil Codes und Entschlüsselungstechniken einfach immer schon zu meinem Leben gehörten. Im Grunde beschränkte sich die Aufgabe
also darauf, alles aufzuschreiben, was ich schon seit Ewigkeiten wusste. Trotzdem hat es sich ein klein wenig besser verkauft
als die anderen Sets. Die Marketingmenschen, die ich inzwischen wegen jeder Kleinigkeit konsultieren muss, behaupten, Spionieren
sei zu sehr«Kalter Krieg» und Detektivspielen zu «lahm» und «altmodisch» für Kinder in unserer heutigen, von Terrorismus und Weltraumtechnologie
geprägten Matrix-Welt. Ich weiß nie so recht, was ich darauf erwidern soll. Weil sich das KidCracker-Set also etwas besser
verkauft hat als die anderen beiden (die sich übrigens auch gar nicht so schlecht machen, obwohl sie «lahm» und was nicht
sonst noch alles sind), soll ich mir jetzt etwas Neues ausdenken, das eine gewisse «Codeknacker-Atmosphäre» vermittelt. Ich
habe mir überlegt, dass sich das nächste Set ums Überleben in der Wildnis drehen sollte. Man könnte es «KidScout» nennen,
was aber eigentlich zu sehr nach Pfadfindern klingt und alles andere als cool ist. Es fällt mir schwer, einen Namen dafür
zu finden, obwohl ich darin sonst eigentlich ganz gut bin. Und obwohl es mir in der entscheidenden Sitzung offenbar gelungen
ist, sowohl meine Chefin als auch die Marketingmenschen davon zu überzeugen, könnte ich inzwischen keinem mehr erklären, was
Survival-Training jetzt eigentlich genau mit Codeknacken zu tun hat. Wahrscheinlich habe ich auf das interaktive Element gesetzt
(wobei meine Produkte immer interaktiv sind, weil man sich bestimmte Fähigkeiten aneignen muss). Mein anderer Vorschlag, KidCadabra,
eine Art Zauberkasten, fiel leider durch. Sie waren zwar alle der Ansicht, dass sich so etwas im aktuellen Klima auf dem Spielzeugmarkt
gut verkaufen würde, fanden aber, es könnte PopCo als Gesamtmarke schaden, Kindern «schwarze Magie» zu verkaufen.
Übrigens ist es gar nicht ausgeschlossen, dass auch mein Survival-Set nie auf den Markt kommt. Es passiert häufig, dass Prototypen
entwickelt und dann von Fokusgruppen nicht angenommen werden. Oder jemand entdeckt doch noch ein Detail, das PopCo als Marke
schaden oder zu Rechtsstreitigkeiten führen könnte. Da kann man gar nicht vorsichtig genug sein, wenn man für Kinder produziert.
Und so gibt es bei meinemgeplanten Set auch
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