PopCo
Es ist noch nicht einmal neun Uhr, und ich fühle mich völlig desorientiert. Der Taxifahrer hat
seit Newton Abbot kein Wort mit mir geredet, was mich langsam ein bisschen stresst.
«Ganz schön groß, dieses Moor», sage ich lahm.
Der Taxifahrer schnaubt nur. Seit mindestens einer halben Stunde haben wir weder Geschäfte noch Straßenschilder oder auch
nur andere Autos gesehen. Ich bin nicht einmal sicher, ob wir auf einer richtigen Straße sind.
Schließlich sagt er: «Man darf sich nur nicht drin verirren.» Und lacht.
Hare Hall taucht als gezackter Umriss aus dem Nebel auf, unvollständig irgendwie, wie das Motiv auf einem 3- D-Bild , ein Phantasieschloss mit Zinnen und Türmchen. Ich stelle mir vor, dass dort Einhörner und Elfen hausen. Und natürlich denke
ich auch an die Hasen, nach denen das Anwesen schließlich heißt: an das Märchen von Hase und Igel, das ich immer mochte, und
an ein gruseliges, alptraumverursachendes Fantasy-Spielbuch, das ich als Kind hatte und in dem es unter anderem darumging, einen goldenen Zauberhasen aufzuspüren. Das muss etwa zur gleichen Zeit gewesen sein wie die Entführungsängste. Ich
weiß noch, dass ich mich kaum traute, das Buch auch nur aufzuschlagen, aus Angst, einen Hinweis auf den goldenen Hasen zu
entdecken und dann aufgrund dieses Wissens entführt zu werden oder den Hasen sogar versehentlich zu finden und deshalb den
Entführern zum Opfer zu fallen. Das Buch war damals der absolute Renner, irgendwer hatte es mir geschenkt, weil ich mich so
fürs Codeknacken interessierte.
Der Taxifahrer muss eine Gegensprechanlage betätigen, um das gewaltige Tor vor uns zu öffnen, und ich frage mich, woher er
das wohl weiß, denn eigentlich sieht man die Sprechanlage kaum. Gleich darauf fahren wir eine lange, kurvige Auffahrt entlang,
die interessanterweise in einer Art Minikreisverkehr endet. Wozu braucht denn ein Landhaus seinen eigenen Kreisverkehr? Schon
bald stellt sich aber heraus, dass es sich um ein riesiges Anwesen handelt, das aus Tausenden und Abertausenden schwerer grauer
Steinquader errichtet zu sein scheint. In der Mitte des Verkehrskreisels steht eine große Statue, die von weitem wie ein gigantischer
Gartenzwerg aussieht, sich aus der Nähe aber als das PopCo-Firmenlogo entpuppt: ein hellblaues Spielzeugboot mit gelben Segeln
vor einem kreisrunden, roten Hintergrund. Die Reifen des Taxis haben mit dem Kiesbelag zu kämpfen; der Wagen braucht eine
Sekunde länger zum Anhalten als normal.
Ich zahle. «Kann ich eine Rechnung haben?», frage ich den Fahrer. Das frage ich immer, und heute beruhigt es mich sogar auf
merkwürdige Weise: Ich fühle mich wieder mehr wie ich. Ich habe zwar keine Ahnung, wo ich bin oder wo ich kurz vorher war,
aber ich bin auf Firmenkosten unterwegs. Ich habe einen Job. Für manche Leute ist so was entscheidend. Der Taxifahrer schreibt
mir eine Rechnung und fährt davon. Ich bleibe allein zurück.
Da stehe ich nun, vier Stunden vor dem Mittagessen, dem ersten Großereignis der Tagung. Ich überlege, ob es wohl noch genauso
neblig ist, wenn die anderen eintreffen, und ob noch jemand unser Firmenlogo für einen Gartenzwerg halten wird. In Rock, Turnschuhen,
Bluse und Pulli, die Haare inzwischen zu zwei Zöpfen geflochten, stehe ich auf dem Kiesweg, meinen braunen Koffer neben mir,
und frage mich, wo ich hin soll. Da taucht ein Mann auf. Er kommt auf mich zu und – ach du Schande! Es ist Steve MacDonald,
genannt Mac, unser CEO. Er kommt über den Kies und mustert mich erstaunt. Großer Gott. Ich hatte gehofft, einfach einchecken
zu können oder was man hier sonst tut, ohne dass es jemand merkt, und dann ein wenig über das Gelände zu streifen. Eigentlich
hatte ich mir vorgestellt, dass mich schlimmstenfalls meine direkte Vorgesetzte, Carmen die Zweite (ihre Vorgängerin hieß
auch Carmen – lange Geschichte …), bei irgendeinem merkwürdigen Verhalten ertappt, beispielsweise dabei, dass ich vier Stunden zu früh bei der POW aufkreuze.
Aber das hier ist noch sehr viel schrecklicher.
«Hallo», sagt er.
Soll ich ihn jetzt mit Steve, Mac oder Mr. MacDonald anreden? «Hallo», erwidere ich.
«Battersea?», fragt er mich.
«Ja.»
Ein angedeutetes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. «Du bist ein bisschen früh dran.» Er sieht aus wie ein britischer Premierminister
beim Fototermin auf der Ranch eines amerikanischen Präsidenten: nagelneue Jeans, dicker Pulli, grüne
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