Poppenspael
neuer
Arbeitsplatz war von Anfang an gewöhnungsbedürftig
gewesen, eine Tunnelröhre mit einem Durchmesser von knapp 5,2
Metern, die an einigen Stellen 25 Meter unter der
Erdoberfläche liegt. Die Hadron-Elektron-Ring-Anlage, kurz
HERA, war ein Jahr zuvor in Betrieb gegangen und besteht aus zwei
ringförmigen Teilchenbeschleunigern von 6336 Metern
Länge. Im ersten werden Elektronen und im zweiten Protonen
annähernd auf Lichtgeschwindigkeit gebracht, um dann 47.000
Mal in der Sekunde die Anlage zu durchfliegen und an zwei Punkten
zur Kollision gebracht zu werden.
Er gehörte damals
mit zu dem namenlosen Heer von über 600 Physikern, deren
einzige Aufgabe es war, in den Trümmern dieser
Teilchenreaktionen nach kleinsten Materiestrukturen zu suchen. Wer
als Physiker Karriere machen will, so wurde unter der Hand
gemunkelt, der verliert sich nicht in den Niederungen von Fragen
und Rätseln, sondert geht die Sache pragmatisch an. Auf einen
einfachen Nenner gebracht: nicht quatschen, sondern
rechnen.
Mehrere Jahre ging das
auch gut, er fühlte sich wie der neue Kolumbus, der mit
Kribbeln im Bauch im Mikrokosmos nach neuen Welten Ausschau hielt.
Doch im Alltagstrott halfen häufig nur Kompromisse, die nach
Feierabend weiter an ihm nagten. Immer öfter beschlichen ihn
Zweifel am Sinn seiner Tätigkeit.
Im letzten Jahr
begannen Bender dann grundsätzlichere Fragen zu martern. Ist
es wirklich richtig, dass wir Sterblichen in den Gedärmen der
göttlichen Schöpfung herumwühlen? Will ein Atomkern,
dass wir Elektronen, Protonen und Neutronen in ihm entdecken, oder
haben Protonen und Neutronen etwa darauf gehofft, dass wir in ihrem
Inneren auf
up- und down-Quarks
stoßen? Warum messen wir hier eigentlich etwas? Ist
Wirklichkeit am Ende nicht nur das, was wir Physiker zur
Wirklichkeit erheben?
1998 war es so weit
gewesen, er beendete frustriert seine nicht gerade lange
wissenschaftliche Laufbahn und belegte, wild entschlossen, sich
endlich selbst zu verwirklichen, den Studiengang für
Figurentheater an der Stuttgarter Hochschule für Musik und
Darstellende Kunst.
»Das Ticket
bitte!«, dringt eine laute Stimme in sein Universum. Marcus
Bender fingert umständlich das längliche Stück
Papier aus seiner Jackentasche. Die tintenblaue Uniform mustert den
Fahrschein, stempelt mit der Zange eine längere Zahlenreihe
darauf und reicht ihn mit einem »Danke!« zurück.
Während der Zugbegleiter auf die nächsten Reisenden
zusteuert, denkt Bender wehmütig an die kleinen, braunen
Pappkarten von früher, in die nur ein kleines Loch gestanzt
werden musste. Da hieß ein Zugbegleiter noch
Schaffner.
Der Blick aus dem
Fenster offenbart ihm, dass es immer noch regnet. Am Abteilfenster
treibt die flache Landschaft der Kremper Marsch vorbei, dann enden
die Wiesen abrupt und Bäume drängen sich bis nah an die
Scheibe. Die Fahrtgeschwindigkeit zieht ihre Kronen in horizontale
Streifen. Mit einem dumpfen Geräusch wird der Zug abgebremst.
Die grauen Ruinen einer stillgelegten Zementfabrik ziehen vorbei,
ihre glasleeren Gitterfenster starren wie gebrochene Augen. Er kann
kurz durch sie hindurch in die kahlen Räume sehen, deren
Wände mit bunten Graffiti übersät sind. Der tote
Koloss hat noch Leben in sich. Die Waggonräder rattern auf
eine Brücke.
Der Fernsehfilm
›Das Haus an der Stör‹ kommt Bender in den Sinn,
einer dieser Stahlnetz-Klassiker aus den 60ern, den er neulich auf
DVD gesehen hat. Rudolf Platte spielte den kauzigen Kripokommissar,
der während einer Bahnfahrt von Itzehoe nach Oberbayern
erzählt, wie er einen unaufgeklärten alten Fall
gelöst hatte, der hier in der Nachkriegszeit wirklich passiert
war.
Der Zug überquert
den Fluss und aus der Ferne schwebt der Itzehoer Bahnhof heran. Der
Zug hält, und es dauert unendlich lange, bevor es weitergeht.
Die Bahnstrecke in den Norden macht einen großen Bogen in
westlicher Richtung durch die Wilster Marsch bis kurz vor die
Nordseeküste. Die nächste Station ist Wilster. Ein
tristes Kaff, denkt Bender, indem er den Anblick des Bahnsteigs auf
den Ort hochrechnet. Ab Wilster geht die Strecke stetig bergauf.
Die Geschwindigkeit wird spürbar gedrosselt, die Marschbahn
verlangsamt beinah auf Schritttempo.
»Die Hochdonner
Hochbrücke wird gerade grundsaniert«, hört er einen
der Mitreisenden hinter sich erklären. »Bis 2007 wird
hier im Schneckentempo geschlichen.«
Wenn du über den
Nord-Ostsee-Kanal kommst, wird das Wetter automatisch besser als
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