Poppenspael
in
Hamburg, haben seine Freunde immer behauptet, wenn sie aus dem
Norden anriefen. Bender hatte das jedes Mal als maßlose
Übertreibung abgebucht.
Doch wie von
Wunderhand wird es draußen im selben Moment heller. Er beugt
sich zum Fenster vor und schaut an den vierkantigen
Eisenträgern der Brücke vorbei 50 Meter in die Tiefe. Die
künstliche Wasserstraße wurde noch zur Kaiserzeit
schnurgerade durch die flache Landschaft gegraben. Ein
weißes, riesengroßes Kreuzfahrtschiff passiert gerade
die Brücke. Er kann direkt in einen der schwarzen Schornsteine
gucken.
Schon hat der Zug den
Brückenbogen hinter sich gelassen. Sein Puppenspielerblick
fällt auf eine Welt in Miniatur, winzige Kühe und Schafe
stehen auf verwinkelten Flächen aus unterschiedlichem
Grün, Häuschen reihen sich an gebogene, sich kreuzende
Bleistiftstriche, auf denen Spielzeugautos von unsichtbaren
Händen hin und her geschoben werden. Dazu bricht die Sonne
vollends durch die Wolken, legt neben alles Winzige einen ebenso
winzigen Schattenriss. Ein Lichtstrahl verfängt sich in einem
verlorenen Wassertropfen, der vom Regen an der Scheibe seines
Abteilfensters hängen geblieben ist, und lässt ihn
glitzern wie einen geschliffenen Diamanten.
Der schlummernde
Wissenschaftler in Bender erwacht sofort wieder, wird von der
kleinen physikalischen Versuchsanordnung der Natur magisch
angezogen.
Wenn man dem Tropfen
eine Größe von sechs Kubikmillimeter zuspricht, rechnet
er blitzschnell im Kopf durch, würden zirka drei Millionen
Photonen darin Platz finden.
Diese Lichtteilchen
kennen keinen Ruhezustand, bewegen sich stets mit
Lichtgeschwindigkeit. Betrachtet man den Tropfen, jagen also im
Moment drei Millionen Photonen mit 1080 Millionen Stundenkilometer
durch den Tropfen hindurch und halten dabei diese Geschwindigkeit
immer konstant, egal was auch passiert. Und obwohl der Tropfen am
Abteilfenster hängt und gerade mit zirka 80 Kilometer pro
Stunde vorwärts bewegt wird, steigert sich die
Lichtgeschwindigkeit nicht um diese 80 Stundenkilometer. Das ist
doch Wahnsinn!
Das alles entspricht
freilich nicht dem gesunden Menschenverstand, denn auf der
subatomaren Ebene gelten in unserem Universum
Gesetzmäßigkeiten, die so unverständlich und fremd
sind, dass der menschliche Geist nicht mehr
hinterherkommt.
Und was lehrt uns das?
Es gibt in der Physik eine beunruhigende Schlussfolgerung.
Allgemeine Relativitätstheorie und Quantenmechanik
widersprechen sich, obwohl beide Theorien mit fast unvorstellbarer
Genauigkeit experimentell bestätigt werden konnten. Das
heißt, wir leben in einer Welt, die man nicht von der Basis
einer Vorstellung aus beschreiben kann. Die physikalische Theorie,
die unsere Welt im Moment zusammenhält, kommt unwirklicher
daher als die Realität, die auf der Grundlage dieser Theorie
existiert.
»Ich kann mit
Sicherheit behaupten, dass niemand die Quantenmechanik wirklich
versteht.« Ein Satz, den Richard Feymann einmal gesagt haben
soll, erinnert sich Marcus Bender. Ein Satz, der bei ihm noch heute
ein unbefriedigendes Gefühl hinterlässt. Daran hat auch
der Wechsel in die Welt der Puppen nichts geändert.
Nun ist auch das
Puppenspiel auf den ersten Blick nichts anderes, als sich in einer
maßstabsverkleinerten Form der Welt zu bewegen. Nur als
Puppenspieler, das war ihm schnell klar geworden, hatte er, Marcus
Bender, die alleinige Macht, alle Gesetze selbst
festzulegen.
So war er auf die nahe
liegende Idee gekommen, sein früheres Leben einfach umzudrehen
und die Physik mit den Mitteln des Puppenspiels zu erklären.
Und vor drei Wochen war es endlich so weit gewesen, er hatte mit
seinem Kommilitonen Bernd Eggink mit seinem Stück über
den Physiker Erich Schrödinger die Abschlussprüfung am
Figurentheater bestanden. Es war ihm gelungen, sich selbst vom Kopf
auf die Beine zu stellen.
Die Marschbahn hat in
der Zwischenzeit wieder ein rasantes Tempo erreicht. Sie prescht
regelrecht durch das flache Land und lässt die Wiesen wie
dunkelgrüne Flüssigfarbe am unteren Rand des Zugfensters
vorbeispritzen. Der Puppenspieler schließt die Augen. Ein
kurzer Moment der Ruhe, dann rattern seine Gedanken weiter, fahren
mit einer imaginären Eisenbahn auf der sich drehenden
Erdkugel, lassen den blauen Planeten im Kopf langsam
zusammenschrumpfen, damit der immer ruheloser um die eigene Achse
rotieren muss. An der Endstation seiner Gedankenreise rast die
Eisenbahn in derselben Geschwindigkeit über den obersten Punkt
der Kugel, in der
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